Ausgabe 02 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1906

2. bis 29. März

Zum Jubiläum des städtischen Vieh- und Schlachthofes, der im März auf ein Vierteljahrhundert seines Bestehens zurückblickt, ist nicht uninteressant, daß dieser einen Vorläufer hatte, auf den sich die ältere Generation noch wohl zu besinnen vermag. Dieser Vorläufer war eine Schöpfung des bekannten Gründers Dr. Stroußberg. Er schuf im Jahre 1867 den von der Regierung konzessionierten „Alten Viehhof". Seine Lage wird noch heute durch die in der Brunnenstraße befindlichen Fabrikanlagen der Allgemeinen Elektrizitäts-Werke bezeichnet. Sonst sind dort auf dem Gelände des „Alten Viehhofs" heute zahlreiche Straßen entstanden.

Das Unternehmen war zunächst nur eine Zentralstelle für den Verkauf des aufgetriebenen Viehs. Erst das Gesetz vom 3. Dezember 1877, das den Schlachtzwang einführte, machte auch einen Schlachthof notwendig. Es lag nahe, ihn dem Viehmarkt anzugliedern; dazu aber bot das Gelände in der Nachbarschaft des Alten Viehhofes nicht Raum genug. So lenkte denn die Stadt ihre Blicke von Berlin N. nach dem Osten. Sie erwarb von der Gemeinde Lichtenberg ein etwa 39 Hektar großes Terrain, und am 1. März 1881 konnten die unter Leitung der Bauräte Blankenstein und Lindemann ausgeführten Anlagen des Städtischen Vieh- und Schlachthofes dem Betrieb übergeben werden.

Damals, als Berlin den Bau beschloß, hatte seine Bewohnerzahl soeben die erste Million erreicht. In dem seitdem vergangenen Vierteljahrhundert hat die Reichshauptstadt die zweite Million bereits überschritten. Das beständige Wachsen der Stadt mußte sich naturgemäß an derjenigen Stelle deutlich fühlbar machen, die für die Ernährung der Bevölkerung in vorderster Reihe steht. So mußte fortdauernd das Vorhandene vergrößert und Neues hinzugebaut werden. Zu diesem Zwecke wurden weitere Gelände erworben, so daß heute die Anlagen insgesamt ein Areal von 48 Hektar bedecken.

Dabei hat sich die Stadt schon seit Jahren ein umfangreiches Terrain für sieben Millionen Mark gesichert, um den Engrosmarkt für das geschlachtete Fleisch dort unterzubringen. Aber auch ohne diese letzte Vergrößerung bildet der Städtische Vieh- und Schlachthof schon jetzt eine Stadt für sich, und nach Tausenden zählen die Leute, die in seinen Anlagen täglich beruflich tätig sind. Das Jubiläum wird heute durch einen Kommers gefeiert.

Gegen das Modegift Lysol richtet sich eine für die ganze preußische Monarchie gültige Polizeiverordnung, die eine Reihe von Vorschriften über die Aufbewahrung und Abgabe von Giften enthält. Das Lysol, auf dessen Schuldkonto in den letzten Jahren ein großer Teil aller Selbstmorde und Selbstmordversuche zu setzen ist, soll in seiner freihändigen Abgabe ganz erheblich eingeschränkt werden. Es dürfen fortan nur noch Lösungen verabfolgt werden, die nicht mehr als einen Teil Lysol auf 100 Teile Flüssigkeit enthalten. Stärkere Lösungen gelten als Gift und dürfen demgemäß nur an zuverlässige Personen auf Grund eines besonderen Erlaubnisscheines oder gegen ärztliches Rezept, dagegen nicht an Kinder unter 14 Jahren verabfolgt werden. Es steht zu hoffen, daß diese Polizeiverordnung der noch immer grassierenden Lysolmanie wirksamen Einhalt gebieten wird.

Eine zweite polizeiliche Hennigsuche findet gegen Abend in dem Haus Holzmarktstraße 37 statt. Dort befindet sich in der vierten Etage eine sehr große, leerstehende Wohnung, von der ein Vorderzimmer an einen Zuhälter S. und der hinterste, im Seitenflügel befindliche Raum an ein unter Sittenkontrolle stehendes Mädchen vermietet ist. S. soll ein Freund des Hennig sein, der nach Angabe verschiedener Personen auch noch gestern vormittag bei ihm verkehrt habe. In die Füllungen der drei Türen des erst kürzlich renovierten Zimmers sind in jüngster Zeit Gucklöcher gebohrt worden, die zum Teil von innen verstopft waren.

Der Kriminalpolizei war gemeldet worden, daß Hennig wieder bei S. zu Besuch sei. Es wurde daher alsbald eine Durchsuchung des Hauses angeordnet. Da man aus einem Fenster der Wohnung leicht auf zahlreiche Dächer gelangen kann, werden diese Dächer zunächst möglichst unauffällig durch Schutzmänner besetzt. Dann wollen Beamte in die Stube des S. eindringen, der aber trotz wiederholter Aufforderung seine von innen verschlossene und verriegelte Tür nicht öffnet. Nachdem man sich gewaltsam Eintritt verschafft hat, findet man ihn allein mit einem Mädchen vor. Er bestreitet, daß Hennig bei ihm gewesen sei, und leugnet auch, daß er gestern überhaupt den Besuch eines Mannes gehabt habe, obwohl ihm das Gegenteil von Zeugen ins Gesicht gesagt wird. S. wird zur Vernehmung ebenso wie das Mädchen zur Polizeiwache an der Michaelbrücke gebracht.

Falko Hennig

* Mehr vom Autor: Lesung der Reformbühne Heim & Welt am 15. März, 20 Uhr in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung, Turmstr. 5, Moabit, oder unter
www.Falko-Hennig.de

Foto: Friedrich Seidenstücke

Seit 25 Jahren wird die Versorgung Berlins mit Fleisch über den Central-Viehhof abgewickelt.

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