Ausgabe 02 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wenn die Playstation das Gespräch ersetzt

Die Schulhofdebatte geht am Kern des Problems vorbei

Als sich die Edgar-Hoover-Realschule im Wedding vor vier Jahren ein neues Schulkonzept gab, um mit intensiverer Sprachförderung die Deutschkenntnisse der Schüler zu verbessern – über 90 Prozent waren Migrantenkinder –, rief das weder lokale noch gar überregionale Medien auf den Plan. Ebenso wenig, als sich vor anderthalb Jahren Schüler-, Eltern- und Lehrervertreter auf der Schulkonferenz einstimmig einigten, daß die Schüler mit unterschiedlichsten Herkunftssprachen künftig auf dem Schulhof deutsch miteinander reden sollten. Erst als Anfang dieses Jahres in der türkischen Zeitung Hürriyet Artikel darüber erschienen, die der Schule „Verbotsmentalität" und Diskriminierung vorwarfen, brach die mediale Hölle über die Realschule herein: Reporter und Kamerateams belagerten die Schule, von Spiegel über Welt bis Zeit, von Tagesschau bis Christiansen wurde das Thema Schulhofdeutsch diskutiert. Völlig ungewollt war die Weddinger Schule ins Zentrum einer hyperventilierenden nationalen Debatte gerückt, die ablief wie gewohnt: erregte Stereotypenreproduktion bei vertrauter Rollenverteilung der mehr oder minder obligatorischen Protagonisten – hier die markige Forderung, Deutsch zur Pflichtsprache auf Schulhöfen zu erklären, Sanktionen inklusive, dort der Vorwurf von Diskriminierung und „kultureller Säuberung".

Mit schöner Zuverlässigkeit wurde nun auch diese Sau durchs mediale Dorf getrieben ­ beiderseits präzise am Thema vorbei. Die Beherrschung der deutschen Sprache in unmittelbaren Zusammenhang mit Gesprächen auf Schulhöfen zu stellen, ist ungefähr so sinnvoll wie die Idee, den routinierten Gebrauch angelsächsischer F-Wörter bereits für ein Indiz solider Englischkenntnisse zu halten.

Sprachwissenschaftler und Hirnforscher weisen seit Jahren darauf hin, daß Sprachkompetenz in der frühesten Kindheit geprägt wird: In den ersten vier Lebensjahren erwirbt ein Kleinkind die wesentlichen Grundlagen der Muttersprache in Wortschatz und Grammatik. Nicht umsonst wurden in den letzten Jahren angesichts der verheerenden PISA-Ergebnisse und aufgrund alarmierender Berichte von Kinderärzten und Grundschullehrern Sprachstandsuntersuchungen für Vorschulkinder eingeführt, um zumindest auf die schlimmsten Defizite im frühen Schulalter eingehen zu können. Defizite, die im übrigen nicht nur bei Migrantenkindern festgestellt werden, sondern zunehmend auch bei Vorschulkindern deutscher Herkunft: Für fast ein Drittel dieser Kinder wurde beispielsweise durch die „Bärenstark"-Untersuchung 2002 in Berlin ein erhöhter Förderbedarf festgestellt.

Die Defizite haben einfache Ursachen: Mit den Kindern wird immer weniger gesprochen, Kommunikation durch Medienkonsum ersetzt ­ Sechsjährige mit eigenem Fernseher, Playstation und Computer sind längst keine Seltenheit mehr. Überforderte Eltern scheitern einerseits an der im Westen immer noch geläufigen gesellschaftlichen Annahme, Erziehungskompetenz sei etwas vom lieben Gott Gegebenes, andererseits an den Herausforderungen, Ansprüchen und Ausschlußmechanismen einer beschleunigten Arbeits- und Medienwelt.

Noch komplizierter ist die Situation für Migrantenkinder, die mit zwei Sprachen konfrontiert sind, letztlich aber keine von beiden richtig beherrschen. Immer wieder hört man Klagen beispielsweise aus Moscheevereinen, daß die Kinder auch Türkisch oder Arabisch nur rudimentär sprechen können, von Lesen und Schreiben ganz abgesehen. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen: Manchmal sprechen Eltern die Muttersprache selbst nicht mehr richtig, weil sie schon in der zweiten oder dritten Generation hier leben; Mütter, die oft aus ländlichen Regionen eingeflogen werden, sind Analphabetinnen. Wer aber gar keine Sprache strukturell beherrscht ­ auch da sind sich Sprachwissenschaftler einig ­ wird an jeder weiteren Sprache scheitern. Nach Beispielen für die Misere muß man in der Praxis nicht lange suchen: Sei es der Sechsjährige, der zwar schon unzählige Male Reis auf seinem Teller hatte, aber kein Wort dafür kennt, weder auf Deutsch noch auf Türkisch; seien es Vorschulkinder, die über die für Dreijährige typischen Vierwortsätze nicht hinauskommen; der Zehnjährige, der nicht in der Lage ist, eine Passivkonstruktion zu bilden, oder der Zwölfjährige, der an mathematischen Sachaufgaben scheitert, weil er sie einfach nicht versteht.

Die Schulhofdebatte wäre schlicht albern, würde sie nicht so dringend notwendige, schon begonnene Debatten wieder in den Hintergrund drängen: über frühkindliche Sprachförderung, kostenlose Kitas mit besser ausgebildeten Erziehern und Bildungsanspruch; über mehr zweisprachige Pädagogen; über Erziehungsberatung für Eltern, insbesondere auch Deutsch- bzw. Alphabetisierungskurse speziell für Migrantinnen ­ oft genug sprechen die Väter durchaus gut deutsch, reden aber kaum mit ihren Kindern, während die eingeheirateten Mütter kaum des Deutschen mächtig sind.

Die beiderseits ideologisch geprägte Debatte wird einmal mehr auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die im demographisch schrumpfenden wie vergreisenden Land zunehmend in der Minderheit sind und sich schlecht wehren können: auf dem der Kinder. Nicht einmal die schallende Ohrfeige des UNO-Menschenrechtskommissars, der neulich Deutschlands Bildungssystem besichtigte und alle Defizite bestätigte, die schon PISA bemängelt hatte: daß Deutschland absolutes Entwicklungsland in Sachen Erziehung und Bildung ist, daß nirgendwo in Westeuropa sonst Bildungschancen so stark von der sozialen Herkunft abhängig sind, daß die frühe Selektion im dreigliedrigen Schulsystem und die durch die Föderalismusreform zementierte Kleinstaaterei im Bildungssystem hoffnungslos rückständig sind ­ nichts von alledem hat die politischen Bildungshäuptlinge beeindrucken können. Umgehend ließ Annette Schavan, CDU-Mitglied und Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, wissen: keine politischen Grundsatzdebatten.

Ulrike Steglich

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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