Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ehemalige Nachbarn
Eine Ausstellung in Schöneberg dokumentiert jüdisches Leben im Bezirk

Die Ausstellungshalle im Rathaus Schöneberg, ein langgestreckter, schmaler Raum mit hohen Wänden und einem Glasdach, durch dessen milchige Scheiben ein angenehmes Licht fällt, gleicht dieser Tage dem Lesesaal einer alten Bibliothek. Dieser Aufbau bildet den Rahmen für die Ausstellung Wir waren Nachbarn. 102 Biografien jüdischer Zeitzeugen, die von Katharina Kaiser vom Kunstamt Tempelhof-Schöneberg kuratiert wurde und schon zum zweiten Mal an diesem Ort zu sehen ist. Bezugnehmend auf den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, der 2006 erstmals von der UNO zum Internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt wurde, soll diese Ausstellung als sogenannte Intervallausstellung auch in den nächsten Jahren für jeweils drei Monate in der ersten Jahreshälfte gezeigt werden.

Die Lektüre, zu der die Besucher bzw. Leser in diesem Saal eingeladen werden, ist ganz spezieller Art. Auf einer langen Reihe von Lesepulten befinden sich Erinnerungsbücher mit den Biographien von nunmehr 102 Jüdinnen und Juden, die ehemals in Schöneberg gelebt haben, also ganz „normale" Nachbarn waren, und die durch den Nationalsozialismus ins Exil vertrieben oder in die Vernichtungslager deportiert worden sind. Angelegt sind diese Biographien in der Art persönlicher Familienalben, versehen mit Fotos und einem Begleittext, der die unterschiedlichen Lebenswege erzählt. Bewußt wird dabei eine Zuspitzung der einzelnen Lebensgeschichten auf den Holocaust vermieden. Vielmehr wird Wert darauf gelegt, die Biographien in ihrer Gesamtheit darzustellen, d.h. den Lebenswegen vorher, sowie ­ bei den Überlebenden ­ dem Leben nach 1945 den gebührenden Platz einzuräumen.

Diese Lebensbücher enthalten das Ergebnis einer inzwischen mehr als 20jährigen kontinuierlichen Recherche und wären ohne die Unterstützung derjenigen, die den Holocaust überlebten und bereit waren, ihre Geschichten zu erzählen, nicht denkbar. Neben den Lebenswegen vieler bekannter Persönlichkeiten, die in Schöneberg gelebt haben, wie Albert Einstein, Walter Benjamin oder Else Lasker-Schüler, ist es jedoch die große Anzahl an Lebensgeschichten von „Durchschnittsmenschen", die beeindruckt. Manchmal sind es denn auch eher zufällige Funde, denen ein neues Album seine Entstehung verdankt.

Wesentlich größer ist jedoch die Zahl derer, zu denen sich kein Gesicht und keine Geschichte mehr rekonstruieren läßt. Davon zeugen die an den seitlichen Wänden des Raumes angebrachten Karteikarten, auf denen sich, nach Straßen geordnet, die Namen der aus Tempelhof und Schöneberg Deportierten befinden und die darauf hinweisen, wie kostbar die in den Alben sichtbar werdenden Lebensgeschichten fürs kollektive Gedächtnis sind.

Neben diesen Erinnerungsbüchern, die das Kernstück der Ausstellung bilden, gibt es weitere Elemente, die einerseits den Blick auf den nicht-jüdischen Alltag erweitern, andererseits den Bezug zur heutigen Zeit herstellen wollen. In einem als „Archiv der Erinnerungen" bezeichneten kleinen Schubladenschrank werden „Erinnerungssplitter", Aussagen aus Interviews oder Briefen nicht-jüdischer Zeitzeugen, gesammelt. Außerdem wird der Film Geteilte Erinnerungen gezeigt, in dem jüdische und nicht-jüdische Zeitzeugen interviewt werden. In einer Hörinstallation, die Interviews mit jüdischen BerlinerInnen anbietet, wird der Bogen zur Gegenwart geschlagen, der von dem „Wir waren Nachbarn" des Ausstellungstitels zum „Wir sind Nachbarn" ins heutige Berlin führt. Darüber hinaus gibt es ein Rahmenprogramm mit Lesungen von Zeitzeugen.

Carola Köhler

Wir waren Nachbarn. 102 Biografien jüdischer Zeitzeugen, noch bis zum 23. April im Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz, Di bis Fr 10-18 Uhr, Sa u. So 10-17 Uhr, Eintritt frei, www.hausamkleistpark-berlin.de

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