Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Flatrate im Kopf

Erwin Einzingers frostiger Abgesang auf kollektive Pop-Erfahrung

M„Es wird kalt, ich dreh die Heizung an. Es wird warm, ich dreh sie ab.“ So beschrieb Andreas Dorau 1996 in seinem Song „Ab“, einer Persiflage auf Tanzmusik, sehr treffend jene Grundform von Pop, die selbst als ein in maximaler Redundanz dargebotener House-act(-Witz) noch funktioniert, d.h. absolut erfahrbar bleibt – so man dazu tanzt. Strukturimmanente Verweise à la Dorau vermeidet Erwin Einzinger dagegen in seinem Werk Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik konsequent und durchgehend. Roman nennt sich das Ganze und bleibt bis zum Schluß – auf Seite 534 – resistent gegenüber heißen Rhythmen und aufregenden Lyrics. Zwar wird im Klappentext „viel Begleitmusik“ versprochen, aber schon vom Autor selbst wird mit dem Nick Drake-Zitat „If songs were lines in a conversation the situation would be fine“ erznüchtern aufgemacht. Und um klarzumachen, daß es zu keinerlei irgendwie romantischer Zwiesprache kommen soll – und es wird auch nicht dazu kommen – bekräftigt er sein Programm, indem er noch drei Zitate aus Andy Warhols Tagebüchern, welche dem obigen Dorau-Zitat in puncto Sprödheit in nichts nachstehen, hinzufügt.
Ich ahnte schon, auf was ich mich einzustellen hatte: Auf Diskretion allen überbordenden Gefühlsausbrüchen des Autors dem Leser gegenüber. Habe ich es tatsächlich vor kurzem so formuliert, daß dies ein Werk eines langweiligen Menschen sei, der offenbar aber auf eine aufregende Plattensammlung verweisen kann? Falsch. Eher sehe ich jetzt einen abgebrühten Typ, der so verwegen ist, dies nur so aussehen zu lassen, um damit all diejenigen, welche ihrerseits lediglich mittels ihrer riesigen (Pop-) Sammlung lebendig erscheinen, zynisch abzustrafen. Ihr bürgerlichen Langweiler, da habt ihr es!! Und ich bin auch drauf reingefallen – na, zumindest bis Seite 197: „Mit den verschiedenen Tanzstilen, die indes in den letzten hundert Jahren über die westliche Welt hinweggefegt sind, haben die klassischen indischen Tanzformen wenig gemein. Dennoch findet man in indischen Städten wie Delhi, Bombay und Madras jede Menge junger Leute, denen westliche Lebensweise und amerikanische Unterhaltungsmusik offenbar mehr bedeuten als die Traditionen der heimischen Kultur.“
Gleich einem Tagesablauf aus Aufstehen, Kulturradio an, Frühstück mit ausführlichem Feuilleton, danach vielleicht eine TV-Dokumentation, einige Popsongs querhören, gleichzeitig im Netz surfen, zwischendurch Selbsterlebtes im Tagebuchstil einmischen usw., verknüpft Einzinger strikt assoziativ alle modernen Informationsströme miteinander. Dramaturgisch kocht er das dabei herauskommende Potpourri auf lauwarm herunter, verharrt beobachtend, gibt sich unbeteiligt.
Aber noch nicht auf Vox schalten, um die restliche Nacht zu Longdrinks und Bademode am Palmenstrand und Daft Punks „Around The World“ auszuchillen – bitte noch etwas weiter im Textauszug von S.197: „Ein junger indischer Populärmusikforscher soll sich seit ein paar Jahren mit der Frage beschäftigen, inwieweit Elemente der traditionellen indischen Musik Einfluß auf die westliche Unterhaltungsmusik genommen haben.“ Denn jetzt kommt die Hookline!: „Bekanntlich war der Liverpooler Gitarrist George Harrison schon 1966 nach Indien gereist, um bei Ravi Shankar das Sitarspielen zu erlernen und zugleich dem Druck des Starkults um die Beatles zu entkommen. Er machte dabei Bekanntschaft mit dem Hinduismus und verschiedenen meditativen Praktiken (…).“ Mitten in dem drögen Kulturkanal-Mix findest du, als geiler Kenner, irgendwann auch deinen Lieblingsstar, dein Fachgebiet – so du deine Bildungs-Flatrate im Kopf anständig ausnutzt.
Besonders perfide finde ich die Idee, daß Einzinger offenbar, als er den fertigen Text ansah und schon recht zufrieden mit dessen Foltergehalt war, diesem noch 100, den „Lesefluß“ brechende Fußnoten hinzufügte. Damit wollte er’s den spießigen Pop-Briefmarkensammlern ohne Eigenleben offenbar erst so richtig geben. Beispiel gefällig? „Einer von denen, die sich schon zuvor kaum dort (die Rede war zuvor von irgendeiner Gaststätte, J.G.) sehen lassen haben, sitzt jetzt hoch über den Gassen der Stadt auf einem relativ flachen Ziegeldach und macht langsam kreisende Bewegungen wie ein Techno-Priester.* Dann schaut er sinnend hinüber zur Kirche, deren schwere Glocke vor Jahrhunderten aus einer – wegen ihres sündhaften Ausdrucks, den die Geistlichkeit beanstandet haben soll – von den Bürgern der Stadt schließlich eingeschmolzenen Bronzestatue einer wollüstigen Venus gegossen worden ist.“ Dazu die Fußnote (*): „Von verschiedenen Seiten wurde bereits darauf hingewiesen, daß in der Techno-Szene der DJ, der mit seinen Soundcollagen die jungen Leute in tranceähnliche Zustände versetzt, als eine moderne Form des Schamanen zu sehen sei und daß Techno den kindlichen Versuch einer Verzauberung des Alltags darstelle. Ein Soziologe der Universität Konstanz: ,Die Techno-Veranstaltung am Wochenende ist vergleichbar mit dem klassischen Kirchgang. Der einzelne wird durch die gemeinsame Trance oder einfach durch das Gemeinschaftsgefühl für seine Vereinzelung in der modernen Gesellschaft entschädigt.’”
Einzinger hat sich verdient gemacht, wenn es darum geht, dem kulturbeflissenen Bürger eine nicht-schallende Ohrfeige zu geben, sie ihren Überfluß an Kultur-Informationen eben nicht spüren zu lassen. Jede noch so kleine echte Teilhabe an irgendeinem Pop-Phänomen erscheint hierzu als das wirklichere Leben. Selbst im Big Brother-Knast oder beim DSDS-Event wärst du als Teilnehmer realer denn als faktenfressender Popwisser. So wie Einzinger den musiktheoretischen Abriß über Chopin auf dem Cover seines „Romans“ mit einer selbstgekritzelten Rockgitarristen-Figur im T-Shirt, in entspannter Haltung, verziert, so hermetisch schließt er jede körperliche und spirituelle Erfahrung mit Pop-Phänomenen vor den wißbegierigen, aber darüber hinaus lethargischen Nicht-Teilnehmern ab. Für die inflationär steigende Zahl bloßer Konsumenten und Sammler von anspruchsvollen „Unterhaltungs-Werten“ ist sein Buch paradoxerweise gemacht, ein Requiem für Pop-Zombies. Na, hoffentlich geht die Masche mit der Katharsis auf und Einzinger kann eine kleine Rente aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik ziehen. Das intelligente Buch pocht jedenfalls auf sein Konzept, die konjunktivische Umkreisung von Unterhaltungs-, sprich Emotionskonserven und wirkt somit in Kafkas Sinne stringent als Axt für das gefrorene Meer in uns – bis zum Schluß. Dort holt Einzinger dann den Warhol noch mal hervor, bevor er mit der letzten Fußnote – darin es um die Zahnplombe in der Phantasie eines Kindes und der daraus hervortretenden Metapher auf die Industriegesellschaft und die ihr innewohnenden Heilsversprechen geht – mit dem großen Popstar-Register schließt. Und damit sollte der Anti-Pseudo-Narrativ-Leser am besten auch beginnen, vielleicht der Hitliste der Nennungen folgend, als da wären: Warhol (23), Elvis (16), Hitler (13), Kafka (9), Beatles (8), Dylan (7)… Ab geht’s!

Text und Foto: Jörg Gruneberg

* Erwin Einzinger: Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik. Residenz Verlag, Salzburg 2005. 24,90 Euro

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