Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

4048, 2005, 50 x 75 cm Foto: Jörg Sasse

Vom denkenden Sehen lösen

Fragen an Jörg Sasse zum Dokument-Charakter der Fotografie

Der Fotokünstler Jörg Sasse studierte in den achtziger Jahren bei Bernd Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie. Er lehrt heute als Professor im Fach Dokumentarfotografie an der Universität Duisburg-Essen. Bekannt wurde er mit Fotoarbeiten, in welchen er deren formale Elemente auf eine „vorsprachliche" Wirkung hin untersucht. Seit Beginn der neunziger Jahre bearbeitet er zudem Fotografien am Computer, wobei er auch Amateurbilder verwendet.

Was ist Ihre Definition von Dokument, welche Eigenschaften würden Sie ihm zuschreiben?

Vielleicht ist ein Dokument etwas, daß zeitnah als die Aufzeichnung eines Augenblicks entsteht. Der Begriff der Aufzeichnung eröffnet hier schon etwas Wesentliches: Ein Dokument ist immer eine Transformation.

Wenn ein Foto als Dokument gebraucht wird, wird ihm danach nicht immer auch ein Subtext zugeordnet, damit es letztlich als Dokument Bestand hat? Ohne Subtext, stünden da nicht viele Bilder verloren da?

Das Foto als Dokument ist durch seine Existenz zu einem Teil von Welt geworden, nicht mehr und nicht weniger. Ich kann eine Fotografie als Dokument verwenden ­ im Verhältnis zu dem, was irgendwo vor der Kamera war, ist das jedoch bereits die zweite Ebene.

Ich halte es für sinnvoll, den Prozeß der Entstehung genau zu betrachten, um differenzieren zu können, worüber wir sprechen, wenn es um „Inhalte" gehen soll. Der „Subtext", von dem Sie sprechen, entsteht also möglicherweise erst auf der zweiten Ebene der Transformation. Nun könnten Sie einwenden, die Absicht, das Abbild eines Stuhls zu erzeugen, sei völlig unkompliziert mit fotografischen Mitteln zu erledigen. Tatsächlich stünden wir vielleicht nachher vor einem Foto, auf dem wir mit dem Finger auf einen Stuhl deuten. Hier benutzen wir eine sprachliche Vereinbarung, um uns begrifflich zu verständigen. Ginge es um das Foto eines Stuhles, der anhand einer einzigen Fotografie nachgebaut werden sollte, zeigte sich deutlich, wie komplex und schwierig die Transformation in ein Bild ist. Die Frage nach dem richtigen Medium für ein „Stuhl-Dokument" drängt sich auf: Vermutlich wird man einen Bauplan mit Materialangaben und Maßen bevorzugen.

Gibt es Systeme, Codes, die wir gebrauchen (können), um fotografische Subtexte zu generieren und zu verifizieren/zu entschlüsseln?

Selbstverständlich: Es gibt ja sogar eine Industrie des „schönen Scheins". Mit der menschlichen Neigung, Bilder als Projektionsflächen zu verwenden, verdienen ganze Wirtschaftszweige ihr Geld. Dazu gehört sicherlich auch das Nachrichtengewerbe. Es steckt in Ihrer Frage: Inhalte werden generiert, projiziert, um an anderer Stelle wieder decodiert zu werden. Das Verifizieren bezieht sich hier also auf etwas, das möglicherweise erst später dem fotografischen Bild zugefügt wurde.

Ist der Grund für den Glauben an die Dokumenthaftigkeit, also die Wahrhaftigkeit der Fotografie, hauptsächlich in Sprache und Wissenschaft zu suchen? Laut Vilém Flusser sind ja alle Fotos zunächst Texte, die danach ­ über Theorien, Formeln, Apparate ­ zu Bildern werden. Aus eben diesen Bildern generiere sich dann erst die konkrete Welt.

Bilder sind vorsprachlich. So wie das Denken auch. Die Sprache ist ein mögliches Medium, Gedanken kommunizierbar zu machen. Zur Verständigung bedarf es aber zweier Personen, die zu verstehen bereit sind. Fotografische Bilder werden sehr oft in Kombination mit Text verwendet. Das macht es schwieriger, sie zu sehen, weil der Konvention nach ein sprachliches Verstehen als primär angesehen wird, was ich für problematisch halte. Dabei liegt dies frühestens in der dritten Transformationsebene. Welt läßt sich nicht aufzeichnen. Oder wenn es mit irgendeinem Apparat gehen würde, wären vermutlich wir als Menschen nicht in der Lage, die Aufzeichnung zu erfassen. Ohne uns selbst zu überschätzen, können wir vielleicht Teile von Wirklichkeit betrachten und zu vermitteln suchen, um darüber zu kommunizieren, was durchaus gänzlich ohne Sprache möglich ist.

Wo endet für Sie das Dokumentarische?

Wenn ich an meinen obigen Versuch einer Begriffsdefinition denke, dann ist der Moment der Rezeption eines Bildes ein gegenwärtiger Augenblick. Mein Verständnis von Bild hängt also stark damit zusammen, in welchem Zusammenhang, mit welcher Stimmung oder Voreingenommenheit ich dem Bild begegne. Es erfordert eine aktive Bereitschaft, ein Bild als Dokument zu betrachten. Wird es unbewußt oder einvernehmlich suggeriert, handelt es sich wohl eher um die Verführung, etwas im Sinne des Kontextes zu glauben. Kurz, wir sind dem „Belogen-Werden" durch Bilder grundsätzlich in einer Nachrichtensendung ebenso ausgesetzt wie vor einem Werbeplakat.

Es gibt einen Nachrichtensender (Euronews), der sendet zeitweise Filmsequenzen ohne gesprochenen Text (nur Ort und Datum werden untertitelt). Die Wirkung ist für mich intensiver als bei einem kommentierten Film. Der „Code" Nachricht scheint hier aufgebrochen, die Phantasie, das Unterbewußtsein bemächtigt sich zu einem Gutteil des Informationsgehalts. Ein bekannter Effekt, der auch bei Rundfunksendungen umgekehrt funktioniert. Offenbar wird eine Information umso interessanter, je weniger Sinne gleichzeitig angesprochen werden. Ich will daraus keine Regel machen, aber auf die ­ ebenfalls ­ stark irrationale Komponente, die Sie in ihrer Arbeit ganz offensichtlich zum Klingen bringen, zu sprechen kommen. Sie scheint beabsichtigt. Wollen oder können sie diese Effekte genauer benennen? Im aktuellen art-Artikel (Nr. 12/2005) kann Roland Gross nurmehr einen Spleen des Künstlers attestieren oder wie er sagt: „Der Arbeitsprozeß birgt möglicherweise Analytisches, aber der große Rest ist klassische Künstleranarchie." In genanntem Artikel wird nicht geklärt, worum es sich im Arbeitsprozeß dreht. Im gleichen Artikel sprechen Sie sich aber bewußt gegen den Geniekult aus. Kein Widerspruch?

In diesem Fall ist der Interpret der Autor des art-Artikels: Er wäre zu befragen zum Bild, das er sich von einem „Künstler" macht. Ich habe mich an „Künstler" als Berufsbezeichnung ebenso gewöhnt wie an die Bezeichnung „Kunst" für meine Arbeit. Tatsächlich gefällt mir der Begriff „Anarchie" im Bezug auf Bilder, nicht im Bezug auf das Tun eines Künstlers. Ich habe an anderer Stelle gesagt, daß es eine „Anarchie der Bilder" gibt, eine Herrschaftslosigkeit, Unorganisiertheit, die ich für das wesentliche Potential halte. Die Unfaßbarkeit von Bildern hat Generationen von Herrschenden beunruhigt und immer wieder dazu verleitet, Bilder zu instrumentalisieren. Was aber sind die Bilder selbst, wie sehen sie aus, wenn wir uns vom „denkenden Sehen" lösen und ein sehendes Sehen zulassen?

„Sehendes Sehen" wäre demnach z.B. in der Malerei prozessual organisierter als in der Fotografie ...

Jedes zur Bilderzeugung verwendete Medium hat seine eigenen Bedingungen und Eigenschaften, die zu betrachten und zu differenzieren wichtig ist. Doch zur Erzeugung fotografischer Bilder gehört ebenso der Umgang mit Form und Farbe wie bei gemalten Bildern.

Würden Sie dabei Ihre Arbeitsmethode mehr in Richtung unbewußtes, spielerisches Hantieren oder mehr als phänomenologisch-systematisches Verfahren einordnen?

Die Methoden meiner Arbeit könnten zunächst sinnvoll in technisch und künstlerisch bedingte unterteilt werden. Bei den Methoden, die der Verwendung der verschiedenen Techniken angehören, ist es selbstverständlich überaus sinnvoll, davon Kenntnis und die Fähigkeit zu haben, damit möglichst präzise umgehen zu können. Bei den Methoden des künstlerischen Vorgehens ist das ein bißchen anders, denn es gibt aus meiner Sicht eine gewisse Notwendigkeit, die Sprache und das Vorwissen zu hintergehen, um etwas „passieren zu lassen". Das Reizvolle darin ist, mich selbst im Prozeß der Arbeit in eine nicht-zielorientierte Situation zu bringen.

Die Aura des Authentischen haftet dem Medium Fotografie hartnäckig an. Ich denke dabei an ein Titelbild der Zeitschrift Kunstforum (Bd. 161/2003), ein Kriegsbild. Das Makabere daran ist der Umstand, daß dieses Foto hochästhetisch wirkt, da ein großer und ein kleiner roter Punkt das Bild bestimmen, also „schön" abstrakt anzuschauen ist. Im Hintergrund sind Militärfahrzeuge, Soldaten zu erkennen. Beim zweiten Hinsehen spürt man sogleich das „Faktische", nämlich, daß es sich bei den roten Punkten um Blutspritzer handeln könnte. Es ist im Grunde schwarzer Humor, so ein Bild zu zeigen, zu sagen: Hier, seht mal, ist das noch zu glauben? Nein, man will das nicht, daß man aus realem Krieg lustige Abstraktion formt. Das darf Eggleston mit einem abstrakt-schönen Drink in einem Flugzeug, oder Tillmans mit den Resten einer Party ... Ist Fotografie dem „Realen" gegenüber noch immer verantwortlicher als beispielsweise Malerei?

Eine Eigenschaft des Mediums Fotografie ist die sehr starke Behauptung einer Referenz, also zu dem, was man vielleicht das „Reale" nennen könnte. Nun ist's, wie wir alle wissen, mit dem „Realen" auch nicht weit her, sobald mindestens zwei Wahrnehmende gefragt sind... Daß eine entsetzliche Situation auf einer Fotografie zu etwas anderem wird, liegt ja bereits in der technischen Transformation begründet. Hinzu kommt die Verschiebung des Zusammenhangs. Es bleibt also nach wie vor problematisch, ob man z.B. Brutalität oder das „Unvorstellbare" tatsächlich in ein (fotografisches) Bild überführen sollte. Die Gefahr ist extrem hoch, dabei zu verharmlosen. Denn nicht nur die Erinnerung des „Schönen", sondern auch des „Schrekkens" sind individuell erzeugte Vorstellungen, die in einer Fremd-Visualisierung allzu oft problematisch werden.

Können technische Bilder, Darstellungen mittels technischer Bilder über eine Allegorie auf Zustände ­ real oder mental ­ hinausgehen? Oder ist es schon eine ganze Menge, wenn sie das darzustellen vermögen?

Schon der Begriff der Allegorie geht mir zu weit, wenngleich Bilder oft so aufgefaßt werden und darin sogar ein Teil der Absicht des Autors stecken mag. Neben diesem Gemeinten, das ich nicht in Abrede stellen will, gibt es jenen Teil des Visuellen, der mit Sprache und Bedeutung nicht zu fassen, dennoch sehr konkret sichtbar ist. Wenn ich mich dem stelle, dann wird ein Bild zu einem Gegenüber. Ein Gegenüber evoziert immer eine Selbstwahrnehmung.

Interview: Jörg Gruneberg

* Bilder von Jörg Sasse sind noch bis zum 18. Februar in der Galerie Wilma Tolksdorf, Zimmerstraße 88-89, Mitte, zu sehen. Ebenso im Netz unter: www.c42.de

Foto: Courtesy Galerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt a.M./Berlin, ©VG Bild-Kunst.

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