Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
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Ämterchaos und Verfolgungsbetreuung

Das Schwarzbuch Hartz IV zieht Zwischenbilanz nach einem Jahr Arbeitsmarktreform

Als zum 1. Januar vergangenen Jahres die letzte Stufe der von der Hartz-Kommission verzapften Arbeitsmarktreform inkrafttrat, rechnete man allenthalben mit Ämterchaos, sozialen Spannungen und Protesten. Und tatsächlich ist darüber immerhin die rot-grüne Bundesregierung gestürzt. Der Verlag Assoziation A hat nun ein Buch mit dem Titel Schwarzbuch Hartz IV herausgebracht, das nach einem Jahr versucht, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Die Initiative Agenturschluss als Herausgeberin beauftragte 15 Autoren – hauptsächlich aus Arbeitslosen- und gewerkschaftlichen Basisgruppen –, möglichst umfassend zu beleuchten, welcher Wind seitdem auf den Ämtern und bei den dazugehörigen privaten Trägern weht, welche Formen der Gegenwehr sich entwickelt haben, wo ihre Grenzen liegen und wie sich eine breite soziale Bewegung entwickeln müßte, um nicht wieder so leicht von linksdogmatischen Gruppierungen oder staatstragenden Parteien und Gewerkschaften dominiert zu werden.

Das Buch beginnt mit einer Bestandsaufnahme der veränderten Praxis der Arbeitsagenturen. Äußerst lesenswert ist das Interview mit Harald Thomé vom Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhifeverein Tacheles e.V., der die ebenso lesenswerte Internetseite www.tacheles-sozialhilfe.de betreibt. Seiner Beratungserfahrung zufolge gab es besagtes Ämterchaos tatsächlich. Obwohl sich die Arbeitsagenturen bisher schwerpunktmäßig um die korrekte Zahlung der Gelder kümmerten, gelang selbst das nur fehlerhaft. Das schadete meist den Arbeitslosen und nicht etwa den Agenturen, wie gelegentlich zu lesen war. Inzwischen sind die organisatorischen Anlaufschwierigkeiten beigelegt, so daß die einzelnen Sachbearbeiter mehr Zeit haben, ihre Schäfchen gezielt zu quälen. Nicht nur deshalb empfiehlt Herr Thomé bei jedem Ärger grundsätzlich ­ am besten jedoch bereits vor Abgabe des Antrags ­ eine unabhängige Beratungsstelle aufzusuchen. Viele der Fragen in den Anträgen brauchen und sollten auch besser nicht beantwortet werden! Wer z.B. seine Telefonnummer nicht angibt, dem können Kontrollanrufe nichts anhaben.

Aber nicht nur für jeden Einzelnen persönlich ist es von Vorteil, jeden Bescheid überprüfen zu lassen und gegebenenfalls dagegen vorzugehen. Die Sozialgerichte haben dem Treiben der Agenturen nämlich immer wieder mit Grundsatzurteilen einen Riegel vorgeschoben und damit deren Verhalten etwas gemildert.

Die meisten Arbeitslosen wissen aber ohnehin, daß die Gangart der Arbeitsagenturen trotz offensichtlicher Überforderung längst härter geworden ist. Dahinter steckt das Bemühen, möglichst viele aus dem Leistungsbezug herauszudrängen, sei es mithilfe von Profilingmaßnahmen, die an die Inquisition erinnern oder durch „Verfolgungsbetreuung", wie Mitarbeiter der Arbeitsagentur Bochum bereits seit 2003 ihre Aufgabe nennen: Sie werden per Dienstanweisung genötigt, einzelne Leute herauszugreifen und gezielt mit überzogenen Forderungen zu belästigen, was z.B. die Anzahl ihrer Bewerbungen betrifft.

All diese Tendenzen werden im Buch ausführlich beschrieben, und natürlich gibt es auch ein Kapitel zu Ein-Euro-Jobs. Erfreulicherweise tun die Autoren aber nicht so, als ob all diese Maßnahmen neu wären. Für Sozialhilfeempfänger gibt es das meiste schließlich schon seit langem in ähnlicher Form. Auch reden sie sich nicht die „gute, alte Zeit" schön oder behaupten, der Sozialstaat würde geschleift. Der war schon immer autoritär, aber das wird jetzt deutlicher.

Etwas zu kurz kommen Darstellungen wie auch immer gearteter sozialer Gegenwehr, besonders solcher, die weniger laut daherkommt. In der Vergangenheit waren es schließlich meist die kleinen Beharrlichkeiten der Einzelnen und der virtuose Umgang mit den Ämtern, die viele Arbeitsmarktreformen ins Leere laufen ließen. Man denke nur an die Ich-AGs, die offenbar zu erfolgreich waren. Ein ähnliches Schicksal könnte durchaus auch die Ein-Euro-Jobs ereilen.

Dafür widmet sich das Buch im zweiten Teil ausführlich der in den letzten Jahren mehrmals kurz aufgeflackerten sozialen Bewegung gegen den ganzen Scheiß. Angesichts des Verhaltens der Gewerkschaften und der Parteien fordern alle Autoren den Aufbau einer neuen außerparlamentarischen Opposition, in der sich Arbeitslose und Werktätige selbst organisieren. Warum Frank Jäger vom Arbeitslosenzentrum in Frankfurt/ Main allerdings in seinem Beitrag die Werktätigen ausdrücklich auf „Beschäftigte mit Einkommen unter Alg-II-Niveau" begrenzt wissen möchte, bleibt sein Geheimnis. Treiben die Niedrigstlöhne nicht auch alle anderen nach unten? Die Forderung nach einer Art Einheitsfront der Unterklassen wirkt daher noch etwas unausgegoren.

Ähnlich verhält es sich mit der Forderung der alten Gewerkschafterin Mag Wompel, unabhängig vom Deutschen Gewerkschaftsbund neue gewerkschaftliche Strukturen zu schaffen, um dann lauter Vorschläge zu machen, was der DGB alles anders machen müßte, um wieder eine richtige Gewerkschaft zu werden. Das ist das, was die Gewerkschaftslinke seit Jahrzehnten sagt, und Wompel scheint denn doch nicht so leicht von liebgewonnenen Gewohnheiten lassen zu können.

Insgesamt ist das Schwarzbuch Hartz IV ein erfreulicher Beitrag zum Thema. An manchen Stellen rächt es sich allerdings, daß der Verlag offensichtlich am Lektorat gespart hat. Ein Text wie der über die Praxis des Profiling, wo Arbeitslose schon mal zu „Humanressourcen" werden, hätte in der Form eigentlich nicht abgedruckt werden dürfen. Dafür hätte der Verlag vielleicht etwas billigeres Papier nehmen können. Angesichts des Themas sind 11 Euro nämlich zu teuer.

Søren Jansen

* Agenturschluss (Hg.): Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2006. 11 Euro

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