Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ditte und Menschenkind

Ja. Er lebt noch!

Menschenkind hat ein dickes Buch in der Hand und liest schwermütig aus dem unbekannten Mammutwerk Verletztes Netz von Conrath Koch-Kämmnitzsch vor: „Er kam einst aus dem Memelland und hatte nur einen Kamm in der Hand: Conrath Koch-Kämmnitzsch, der Begründer der textierten Strophe im nonverbalen Bereich der modernen Kammermusik, ist tot. Zwischen Wladiwostok und Hamburg-Altona schweigen die Sirenen."

„Rate mal, wer mir gerade dort vorne beim Brsik-Market über den Weg lief, na?" versucht Ditte ihren Freund zu überraschen.

„Hauswart Bata Begowitsch, schon wieder?"

„Koch-Kämmnitzsch selbst", kreischt Ditte völlig aus dem Häuschen, als wäre sie eine zwölfjährige Göre beim Konzert von Tokyo Hotel in Sachsen-Anhalt.

„Das kann doch nicht wahr sein, Babe, nicht wirklich. Das Ableben hat man uns taktvoll verschwiegen wie so vieles auf dieser Welt. Nur er selbst hat uns von seinem Tod berichtet."

„Da sieht man ja den Schlauberger! Nur wer lebt, kann von seinem Tod berichten." Ditte wirft das Kuchenpaket auf den Tisch von Menschenkinds Bude, packt den Mann bei den Schultern und fleht ihn an. „Menschenkind, wach auf! ER hat eben auf meinen Füßen gestanden! Und ich habe ihn zu Kaffee und Kuchen eingeladen. ER will sich nur noch ein bißchen frisch machen, hat ER gesagt, und aus seinen meerblauen Augen hat es geblitzt, als ER seine weiße Matte auf den geraden Rücken warf. Kein bißchen krumm geworden unter der Last der Jahre und zottigen Zeiten, dieser Kerl. Wie ein Baum geradezu, sensationell dieser Tausendsassa!" Menschenkind ist jetzt doch etwas irritiert ob der grenzenlosen Begeisterung Dittes, den Koch-Kämmnitzsch betreffend. „Äh, zuletzt sah ich ihn 1986 in Lommatzsch, zu seinem Achtzigsten, na ja, äh, der müßte dann ja wirklich schon hundert werden ..." Da klingelts schon an der Tür. Auftritt Conrath Koch-Kämmnitzsch!

„Lest Wieland, dann schreibt ihr gewandte Briefe! Behaltet nur Platz, schöne Frau", sprichts und verbeugt sich vor Ditte, um im gleichen Moment vor ihr niederzusinken. „`Ich setzte bescheiden mich auf den Absatzrand hier deines würdigen Stiefels.' Das ist aus dem Sicheren Mann von Möricke, das gab mir schon als Dreijährigem den Anstoß zu der Erfindung der textierten Strophe im nonverbalen Bereich der modernen Kammermusik. Aber das wißt ihr ja schon, oder, Kinnings?" Koch-Kämmnitzsch fixiert dabei Menschenkind fast feindlich und wiederholt: „Oder, Kinnings?" Menschenkind fühlt sich nun doch ausgesprochen angesprochen und bietet Koch-Kämmnitzsch ein Stück Tilsiter Käsetorte an.

„Ausgezeichnet, junger Mann, aus der Heimat schmeckts am besten", spricht Conrath Koch-Kämmnitzsch beseelt, „also damals, wo ich geboren ward, in Schmalleningken dazumal, war ja nicht so weit bis Tilsit, aber ihr wißt ja, Kinnings, bin ja dann doch hier gelandet, na ja."

„Erzähl uns bitte noch mal aus deiner Hamburger Zeit", bittet Ditte, obwohl sie die Geschichte schon fast tausendmal gehört hat, allerdings zuletzt 1986 in Lommatzsch eben. „Naja, was soll ich sagen", sagt Koch-Kämmnitzsch beinah verlegen, „ich war ja erst knapp vier Jahre alt in Hamburg, aber eins hab ich mir bis heute gemerkt, Kinnings, da sagt man Kinnings in Hamburg, Kinnings." Ditte gibt dem Meister einen Schlag Sahne auf den Teller. „Als die Franzosen 1920 ins Memelland einmarschierten, hatte ich in Hamburg bereits Ernst Thälmann getroffen." Der erstaunlich athletische Koch-Kämmnizsch legt sich die Länge lang auf den staubigen Teppich von Menschenkind. Er kichert irgendwie kindisch dabei und schiebt die verschränkten Arme unter seinen Kopf. „Im wahrsten Sinne des Wortes habe ich ihn getroffen. Ich bewarf ihn mit Pferdeäpfeln, den arroganten Kerl auf dem Kutscherbock seines Vaters. In der Geschichte der Arbeiterbewegung wird dieser Casus so dargestellt, als hätte Ernst Thälmann mich, den dekadenten Avantgardisten, bereits damals mit der Bewerfung gegeißelt." Wie ein Pfeil richtet sich der hundertjährige Recke auf und schlingt die Sahne herunter. „Ja, ich war und bin bis heute als atonaler Tonsetzer, Avantgardist und als solcher unerkannt geblieben, doch meine Theorie von den bombastischen Texturen des babylonischen Bocksgesangs wirkt weiter, Kinnings, ja wirkt weiter, nicht wahr! Aber ich muß jetzt wohl doch aufbrechen, zu neuen Ufern gewissermaßen, ich hab heute noch Termine, erst die Umschulung zum Nail-Designer und dann noch ein Abendessen mit Johannes Heesters in der Böse Buben Bar, na ja. Lakomy kommt auch." (Fortsetzung folgt)

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

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