Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
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Suche nach dem wahren Leben

Im Arsenal wird die Retrospektive zum 30. Todestag von Pier Paolo Pasolini fortgesetzt

Als im November 1975 in Ostia, in der Nähe Roms, die verstümmelte Leiche Pier Paolo Pasolinis gefunden wurde, wurden sofort Stimmen laut, die an einen politischen Mord glaubten. Zu unwahrscheinlich erschien es, daß Pasolini, einer der schillerndsten und umstrittensten Intellektuellen der italienischen Nachkriegsära, auf ganz banale Weise zu Tode gekommen sein sollte, ermordet im Streit von einem Strichjungen aus dem römischen Subproletariat.

Foto: Promo

Noch heute ranken sich Mythen um seinen Tod, ist der letzte Zweifel, ob dies tatsächlich nur die Tat eines Einzelnen war, noch nicht vollständig beseitigt. Nahrung findet dieses Mißtrauen gegenüber der offiziellen Darstellung der Todesumstände zum einen in der italienischen Nachkriegsgeschichte, die reich ist an scheinbar privaten Morden und Selbstmorden, die sich im Nachhinein als politisch herausgestellt hatten. Zum anderen taugt aber auch Pasolinis Leben selbst ganz gut als Quelle für Spekulationen, da er als Künstler, Intellektueller und Homosexueller die bürgerliche Gesellschaft und ihre Konventionen stets kritisiert und so auf radikale Weise das Private mit dem Politischen verbunden hatte.

Dabei hatte er sich kapitalismus- und religionskritisch zwar stets der Linken verbunden gefühlt, sich aber zugleich auch nie gescheut, diese zu brüskieren, indem er zum Beispiel während der 68er-Bewegung mehr Sympathien für die dem Proletariat entstammenden Polizisten als für die revoltierenden Bürgerkinder gezeigt hatte. Konformismus, ob von links oder rechts, war ihm gleichermaßen verhaßt, daraus machte er nie einen Hehl. Pasolini, 1922 in Bologna als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Volksschullehrerin geboren, zählte sich Zeit seines Lebens nie zur bürgerlichen Gesellschaft. Aus dieser Position bezog er einen großen Teil seines künstlerischen und intellektuellen Furors, mit dem er gegen diese und ihre ökonomische Grundlage, den Kapitalismus, anging.

Seine ersten Gedichtbände schrieb er auf Friaulisch, der Sprache seiner Mutter. Veröffentlicht ab 1942, erschien diese Lyrik zu einer Zeit, als man im faschistischen Italien unter Mussolini die Dialekte und Minderheitensprachen des heterogenen Landes zugunsten einer Einheitssprache offiziell verboten hatte. Auch in der Nachkriegszeit, in der er sich zunehmend des Italienischen bedient, bleibt Pasolini seiner sprachkritischen Haltung treu. Jetzt war es das italienische Wirtschaftswunder, der „Boom economico", dem sprachausgleichende Kräfte zugetraut wurden, da mit dem massenhaften Zuzug süditalienischer Arbeitskräfte nach Norditalien eine gemeinsame Sprache zur Verständigung nötig wurde. An ihre Beherrschung war nun auch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gekoppelt. In verschiedenen Artikeln für Zeitungen und Zeitschriften hat sich Pasolini immer wieder in diese Debatte eingemischt. Er kritisierte das neue Italienisch als technokratisch, als entfremdet und betonte die identitätsstiftende Funktion der Dialekte.

Die Entfremdung, die das Individuum in der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft erleidet, ist eines der grundsätzlichen und immer wiederkehrenden Themen Pasolinis. Wie ein roter Faden durchzieht die Suche nach Lebensbereichen jenseits von Kapitalismus und Bürgerlichkeit, in denen sich so etwas wie Ursprünglichkeit und Natürlichkeit finden läßt, sein künstlerisches Werk. In den Jugendlichen des römischen Subproletariats, die in den Borgate, den ausfransenden Vorstädten der italienischen Hauptstadt zu Hause sind, deren geographische Verortung zugleich ihre soziale Lage markiert, und deren Leben er in Romanen wie Ragazzi di vita oder Una vita violenta und Filmen wie Mamma Roma oder Accattone beschreibt, sah Pasolini die Verkörperung seiner Vorstellungen, und so verwundert es nicht, daß er sich von ihnen auch sexuell angezogen fühlte.

Weitere zentrale Themen im künstlerischen Werk Pasolinis ­ besonders in seinen letzten Filmen, die im zweiten Teil einer großangelegten Retrospektive im Kino Arsenal gezeigt werden ­, sind die Verflechtungen von Macht und Gewalt, Sexualität und Tod. Genannt seien hier vor allem die zur „Trilogie des Lebens" gehörenden Il Decamerone, I racconti di Canterbury und Il fiore delle mille e una notte, in denen Sexualität einen lustvollen und befreienden Charakter hat, sowie Salò o le 120 giornate di Sodoma, in dem Pasolini Bezug auf die letzten Tage des italienischen Faschismus nimmt; Sexualität wird hier als Mittel zur Machtausübung, Demütigung und Unterwerfung dargestellt. Ergänzt wird die Werkschau, die die Bedeutung Pasolinis für die Entwicklung des europäischen Nachkriegskinos deutlich macht, um einige Filme über ihn.

Das künstlerische ebenso wie das essayistische Werk Pasolinis hat auch 30 Jahre nach seinem Tod nicht an Radikalität und Aktualität verloren, es widersetzt sich der Vereinnahmung, der Beliebigkeit, der Gefälligkeit. An ähnlich streitbaren Intellektuellen, die nichts darauf geben, von den Mächtigen geliebt zu werden, mangelt es heutzutage in Italien und in Deutschland mehr denn je.

Carola Köhler

* Die „Retrospektive Pier Paolo Pasolini" im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten, läuft noch bis zum 30. Dezember, www.fdk-berlin.de

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