Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kurzkultur

endspiel

Samuel Beckett wird demnächst auch schon 100 ­ würde, besser gesagt, wenn er nicht im Dezember 1989 gestorben wäre. Der Ire in Paris, der das Theater auf den absoluten Nullpunkt zurück- und darüber hinausgeführt hat, wird heute wenig gespielt. Für das zeitgenössische Regie- und Krawalltheater bietet er keinen Stoff. Man muß seine Stücke schon akribisch genau umsetzen, kann sie nicht als Steinbruch nutzen für beliebige Assoziationen. Umso erfreulicher, daß sich der Regie-Nachwuchs wieder für den wichtigsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts interessiert. Sebastian Klink, der im 4. Studienjahr Regie an der Ernst-Busch-Hochschule studiert, wagt es, am 12. Januar das Endspiel auf die Bühne zu bringen.

* Samuel Beckett: „Endspiel", ab 12. Januar im bat-Studiotheater, Belforter Str. 15, Prenzlauer Berg, www.bat-berlin.de

lichtspiel

Jean-Luc Godard wird auch schon 75, lebt aber zum Glück noch. Seine monumentalen Histoire(s) du Cinéma, ein weit ausgreifender Videoessay, an dem der Meister zehn Jahre lang gearbeitet hat, werden aus diesem Anlaß erstmals in voller Länge in Deutschland gezeigt: am 17. Dezember im Kellerkino Arsenal. Wem das zuviel ist, dem werden auch Auskopplungen und Kurzfassungen dieser hochverdichteten, wild assoziierenden Filmgeschichte geboten. Und außerdem kann man Godards neuesten Film Nôtre Musique sehen, der Filmgeschichte mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verschränkt.

* „Geschichte(n) des Kinos – Jean-Luc Godard", vom 16. bis 23. Dezember im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten, www.fdk-berlin.de

ensemblespiel

Trotz des albernen Namens: Das Ensemble UnitedBerlin ist ein ambitioniertes Spezialensemble für neue Musik und beglückt uns immer wieder mit anregenden Programmen. In dieser Saison gestalten die Musiker eine Reihe mit dem vielversprechenden Titel „Vom Äußersten": Es geht dabei um Frühverstorbene, Komponisten mit Drogenerfahrungen, extremen Ausdruck. Man begreift zwar nicht, wie der brave Fließband-Komponist Wolfgang Rihm in das Programm vom 12. Januar geraten ist. Es ist aber auch ein Stück des eines gewaltsamen Todes gestorbenen Claude Vivier (1948-83) zu hören, zu dem er sich auf einer Asienreise hat anregen lassen.

* Ensemble UnitedBerlin unter James Avery, am 12. Januar im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses am Gendarmenmarkt, Mitte, www.konzerthaus.de

possenspiel

„Mich interessiert nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung. Heldentum, Pathos, Verwegenheit, Moral, Hygiene, Sittlichkeit, Rührung und Hasard sind mir verhaßte Worte und Gefühle..." Da die scheinschlag-Redaktion immer wieder mal durchaus ähnliche Anwandlungen hat, nutzen wir die Gelegenheit, um auf eine Veranstaltung zum 100. Geburtstag des Herrn hinzuweisen, der eben solches über sich sagte. Daniil Charms, der großartige Autor des Absurden und nüchterne Erzähler von ­ als Kürzestgeschichten und -dramen getarnten ­ Witzen ohne Pointe, die gleichwohl voller unmotivierter Gewalttätigkeiten und lächerlicher Katastrophen stecken, wird am 30. Dezember im Acud mit einem multimedialen Abend gefeiert, mit Inszenierungen, Installationen, Musik.

* Feier zum 100. Geburtstag von Daniil Charms, am 30. Dezember ab 20 Uhr im Acud, Veteranenstr. 21, Mitte

gastspiel

Zum Nikolaus gibt es ein ganz besonderes Konzert: Anläßlich ihres 25. Jubiläums spielen Blurt im Festsaal Kreuzberg ihr einziges Deutschlandkonzert. Blurt ist eine Art Hardcore-Free-Jazz-Trio. Ende der achtziger Jahre hörten sich Blurt so schräg und wütend an, daß Punk dagegen regelrecht harmonisch und lieb wirkte. Der Saxophonist Ted Milton spielt so, daß einem schon beim Zuhören die Luft wegbleibt. Inzwischen ist es in den Projekten von Ted Milton deutlich ruhiger geworden. Bleibt zu hoffen, daß das nicht für dieses Konzert gilt.

* Blurt, am 6. Dezember um 20.30 Uhr im Festsaal Kreuzberg, Skalitzer Str. 130

nachspiel

Martin Mlecko ist ein Archäologe des Alltags. Nimmermüde durchstöbert er Flohmärkte nach Fotoalben, nach Bildern, die deutsche Durchschnittsbürger bei Familienfeiern oder im Urlaub zeigen. Daraus entsteht ein imaginäres, kollektives Familienalbum, das bereits 10000 Bilder umfaßt. Eine Auswahl aus Private Life ist bis Ende Dezember im Schauraum 1° zu sehen.

* „Familienbande" von Martin Mlecko, noch bis zum 30. Dezember im Schauraum 1°, Chausseestr. 123, Mitte, Di bis Sa 15 bis 19 Uhr

heimspiel

Mitmachen darf man bei einer Ausstellung, die im April 2006 in der Otto-Nagel-Galerie stattfinden soll: mit dreidimensionalen Objekten, Skulpturen, Plastiken, Installationen, die bloß nicht mehr als einen Kubikmeter beanspruchen dürfen ­ wenn man sich denn in der Lage sieht, etwas zu dem äußerst leidigen Thema Heimweh beizutragen. „Man kann von ihm überfallen werden, wenn man eine Tür öffnet, ein Buch aufschlägt", wollen uns die Ausstellungsmacher auf die Sprünge helfen,, aber auch: „wenn man von einem Stück Wurst abbeißt". Wurstplastiken oder was auch immer müssen am 24. oder 25. Februar persönlich in der Galerie abgegeben werden.

* Otto-Nagel-Galerie, Seestr. 49, Wedding, www.otto-nagel-galerie.de

farbenspiel

Berlins kleinste Fotogalerie ist rund um die Uhr geöffnet. In einem Schaufenster in der Torstr. 61 zeigt Christian Reister Fotos und Diaprojektionen, monatlich wechselt das Programm. Dabei geht es derzeit vor allem um die Bilder, die sich Fotografen von Berlin machen. Im Dezember werden Dias von Tina Böckenhauer projiziert, die sich für nächtliche Szenarien und Farben, aber auch für nachts arbeitende Menschen interessiert.

* „innen/außen – NACHT" von Tina Böckenhauer, von 5. Dezember bis 8. Januar im „Fenster61", Torstr. 61, Mitte, www.fenster61.de

trauerspiel

Am ungnädigsten mit den jungen Unangepaßten sind doch immer die Angehörigen des Establishments, die selbst mal rebelliert haben. Das erklärt wohl, daß jetzt einige (links-)liberale Kulturfuzzis einen Aufruf von Christoph Tannert, dem Geschäftsfüherer des Künstlerhauses Bethanien, unterzeichnet haben, in dem sie die lästigen Besetzer im Südflügel des Gebäudes attackieren: „Wir protestieren gegen die selbstermächtigte ,Initiative Zukunft Bethanien' und ihre Sympathisanten, die aus dem Bethanien erneut ein Spielfeld ideologischer Klassenauseinandersetzung machen wollen." Unterzeichnet haben u.a. Festwochen-Intendant Joachim Sartorius, die Kuratorin Ute Meta Bauer und Gaby Horn, Leiterin der KunstWerke. Nun wird sich ja niemand Unterstützung von ihnen erwartet haben. Aber können sie nicht wenigstens den Mund halten?

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2005 © scheinschlag 2005/06