Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kraut und Rüben

Vor zwei Jahren entschied der Aufbau Verlag, sich keine Literaturzeitschrift mehr leisten zu wollen. Das traditionreiche Blatt ndl (neuere deutsche literatur) stand vor dem Aus. Es ging dann aber doch weiter, der Verlag Schwartzkopff Buchwerke versuchte, die ndl knallbunt weiterzuführen, konnte damit aber nicht so recht überzeugen (s. scheinschlag 6/2004). Offenbar auch seine Leser nicht, denn die alte neue ndl mit weiterhin Jürgen Engler als Chefredakteur überlebte nicht lang.

Jetzt meldet sich Engler mit der dickleibigen Anthologie small talk im holozän zurück, Untertitel: „neue deutsche literatur". Hier wurde kompiliert, was man sonst in der ndl hätte lesen können. Das ist aber auch die Crux der Unternehmung. Denn was man einem Periodikum positiv anzurechnen geneigt ist, breit gefächerte Interessen, ein Versammeln unterschiedlicher Strömungen, funktioniert in Buchform nicht. Hier fällt dann doch zuerst die Beliebigkeit auf: ein Interview mit Franz Josef Czernin, eine staatstragende Preisrede von Christa Wolf, dazu eine Menge schlechter Lyrik jüngerer Leute (z.B. Nikola Richter: „die blume auf dem fenster stellt keine glaubensfragen").

Wenn man da und dort doch aufmerkt, dann liegt das daran, daß einige Autoren eben durchaus versuchen, „Glaubensfragen" zu stellen und die Augen vor der Realität nicht verschließen. Reinhard Jirgls Text etwa trägt den Titel „Arbeit ist Hoffnung", während sich Tom Schulz in Gedichten mit der Arbeitswelt auseinandersetzt. Aber sehr viel, was gegen Enno Stahls Diagnose sprechen würde, findet man in dem Buch nicht: „Jedes Land hat die Literatur, die es verdient, Deutschland bedarf ihrer anscheinend als Sedativ, als eine Möglichkeit, die Augen vor der Realität zu verschließen, vor den Rissen im gesellschaftlichen Gefüge, sozialen wie ideellen."

hb

* Jürgen Engler (Hg.): small talk im holozän. neue deutsche literatur. Schwartzkopff Buchwerke, Berlin 2005. 19,90 Euro

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