Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Parallelwelt Helmholtzplatz

Zwischen Familienglück, öffentlichem Trinken, Wandel und Stillstand

Sonntag ist Familientag: Am Mikrofon, auf einer kleinen Bühne inmitten des Platzes, steht ein groß gewachsener Kerl. Er trägt Jeans mit Schlag, kleine runde Brillengläser sitzen auf der markanten Nase. Seine feuerroten Locken fallen auf die Schultern. Da hängt auch die Gitarre, auf der spielt er Nirvanas Generationenschlager „Smells like Teen Spirit". Ein blonder Dreijähriger steht direkt vor ihm, reckt sein rechtes Ohr hinauf, er scheint in Trance, bis ihn der Vater zur Seite nimmt. Der Song ist zu Ende, nach 30 Sekunden klatschen ein paar Besucher. Er bedankt sich artig. Der Applaus, fügt er hinzu, sei doch der wahre Lohn des Künstlers, denn von der Musik könne er sowieso nicht leben.

Den kleinen Kindern ist das egal, wild und kreischend hüpfen sie in Scharen zur Musik, ihre Energie kennt keine Grenzen. Irgendwer kam auf die Idee, jede Menge Heu vor die Bühne zu legen. Die Drei-käsehochs sind natürlich erfreut, tollen umher und werfen sich das Stroh gegenseitig ins Gesicht. Die Eltern schießen von ihren Kleinen ein Digitalfoto nach dem anderen und sind wahrscheinlich auch froh ­ weil die Bälger am Abend müde sein werden.

In den letzten Jahren hat sich einiges verändert am Helmholtzplatz. Almuth Nehring-Venus (PDS), Bezirksstadträtin für Kultur und Wirtschaft, schätzt den Platz nicht mehr als „sozialen Brennpunkt" ein. Die Betroffenenvertretung und das Quartiersmanagement hätten hier in den letzten Jahren gute Arbeit geleistet. Auch das Bezirksamt hätte Anteil an der positiven Entwicklung. Seit zwei Jahren werden bürgerschaftliche Initiativen mit Geldern aus dem Programm LOS (Lokales Kapital für soziale Zwecke aus dem Europäischen Sozialfonds) gefördert. Als treibende Kraft nennt Frau Nehring-Venus die Projekte von Gewerbetreibenden und Künstlern, die sich für eine höhere Lebensqualität der Bürger im Kiez engagieren.

Montag ist ein ganz normaler Tag: In der Mitte des Platzes, nur ein paar Meter entfernt vom sonntäglichen Familienspektakel, lungern, wie gestern, die Trinker rum. Wieder sitzen sie auf dem niedrigen Holzzaun, lehnen an der Tischtennisplatte, das Sternburger in der Hand, vertieft in Unterhaltungen. Die erste Reaktion auf den anpirschenden Journalisten ist feilschender Art und Weise: „Ich sag' nichts unter 10 Euro", schreit einer. Zwei andere sind auskunftsfreudiger, ganz ohne finanzielle oder flüssige Forderungen. Nur ihre richtigen Namen, die nennen sie nicht. „Da hab' ich schlechte Erfahrungen gemacht," sagt einer. Ein Kollege der B.Z. hatte seinen Namen veröffentlicht. Am nächsten Tag klingelte das Telefon, am anderen Ende der Leitung beschwerte sich die Mutter. Die dachte, ihr Sohn würde arbeiten. Für dieses Gespräch hat er sich den Namen Berndt Wühlert ausgesucht.

Immerhin ist Rumhängen und Trinken am Platz geduldet. Das Pankower Ordnungsamt kontrolliert das Gebiet zwar weiterhin verstärkt, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Außendienstes sind allerdings angehalten, angemessen zu agieren. Dabei steht das Gespräch an erster Stelle. Einmal sei er bisher angesprochen worden, sagt Peter Maffay, 45 (wahrscheinlich auch nicht sein richtiger Name). Klare Regeln gibt es allerdings: Auf dem Kinderspielplatz darf gar nicht gesoffen werden. Für Peter und Berndt absolut kein Thema. Es scheint, als ob sie sowieso viel lieber in ihrer Welt bleiben.

Während der Stoßzeit, so gegen 16 Uhr bis Open End, versammeln sich hier oftmals über 20 Trinker. Kürzlich haben sie 40 Stunden durchgemacht, ganz ohne Drogen, betont Berndt, die sind nämlich in der Gruppe nicht akzeptiert ­ außer ab und zu mal ein „lustiges Zigarettchen". Multi-Kulti steht bei den Jungs hoch im Kurs, dabei ist nicht nur der Konsum von Wodka, Rum usw. gemeint, sondern auch die heterogene Struktur der Gruppe. Trinker aus Ungarn, Polen, Vietnam und Peru hängen hier regelmäßig ab. Was zählt, ist das Gemeinschaftsgefühl ­ und eine Verbindung zwischen alltäglichem Alkoholkonsum und Lebensaufgabe. Peter und Berndt sind z.B. für den Spaß in der Gruppe zuständig, schließlich hat der eine oder andere ja öfter mal einen schlechten Tag. Und „wer kümmert sich sonst um die sozial Schwachen, wenn nicht wir selber", sagt Peter.

Eine Selbsthilfe ist unter diesen Umständen jedoch undenkbar, meint „Jochen" von den Anonymen Alkoholikern. Zwar vertreibt das regelmäßige Miteinander die Langeweile und bringt Anerkennung in einer Gruppe, aber den Geist des Alkoholismus vertreibt es nicht. Der bleibt dem Helmholtzplatz also erhalten, als Zeichen der sozialen Schieflage, sozusagen.

Philipp M. Kleinfelder

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2005 © scheinschlag 2005/06