Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

scheinschlag 6/00

Die Ratten 07 melden sich mit einer Guerilla-Studie auf der Bühne zurück

Foto: Rolf Zöllner in scheinschlag 20/93

Ob der bolschewistische Schachspieler, dessen Konterfei in Öl an der Rückseite des Bühnenraumes an einen aufgedunsenen Sylvester Stallone erinnert, diese Rochade des historischen Materialismus vorausgesehen hätte? Eine Kompanie von Guerilleros entdeckt die „bordellische Industrie“ als eigentlich revolutionäre Produktionsform und Stütze der nachrevolutionären Ökonomie. Es mangelt jedoch an einschlägigen Heldinnen der Arbeit, weswegen einer der Genossen widerwillig aber pflichtbewußt das Gewand der Lustarbeiterin überstreift. Als dieser nun wie eine bärtige, schmollende Flamenco-Diva durchs Rebellencamp schlurft, erkennt in ihm einer der Mitstreiter im Wahn seine Ex-Geliebte, und voller Schmerz über die verlorene Zweisamkeit („Wir schwiegen uns tagelang nur an“) knallt er die revolutionäre Tunte über den Haufen. So erledigt der Überbau die Basis, das falsche Bewußtsein die revolutionäre Produktionsform. Was bleibt, ist utopische Zärtlichkeit: Unter der Campingdecke verdauen der Chefguerillero („Wir wollen keine Operettenrevolution, sondern die totale Revolution“) und der greise Chefideologe („Man muß Jesus anrufen“) bei der Zigarette danach den bolschewistischen Coitus Interruptus.

Ein kluger Schachzug der Theaterkompanie Ratten 07 war es, ihre neueste Produktion in verwaiste Werkstatträume unter den S-Bahnbögen nahe der Jannowitzbrücke zu verlegen. Die Volksbühne, Mutterhaus und Teilfinanzier des Obdachlosentheaters, konnte für das Ricardo-Bartis-Stück Die Sünde, die man nicht beim Namen nennen darf, keinen Bühnenraum freimachen. Doch das Provisorium ist ein Glücksfall: Emanzipiert vom Nischendasein in Castorfs Gesamtkunstwerk, überzeugen die Ratten mit einer kompakten und reifen Darbietung an einem Ort, der den Anspruch, Theater „von unten“ zu machen, weitaus unmittelbarer verkörpert als tausend Hunde auf der Bühne.

Über den Köpfen quietschen die Stahlrösser des ÖPNV, draußen die Reifen der PKWs, und im Gewölbe darf das Publikum rauchen, bellen und zwischenrufen. Die neun Schauspieler treten durch das Tor zur Straße auf, der Bürgersteig ist das „OFF“. Der richtige Ort für eine kleine Theaterparty mit Niveau: Präzise schafft das Regieduo Umpfenbach/Wenningmann atmosphärische Kontraste. Tanzeinlagen folgen auf revolutionäre Didaktik, zärtliches Kuscheln auf sprachlose Depression. Als charismatische Leuchttürme irrlichtern der greise Jesusfreak und der Räuberhauptmann, gespielt von Heinz und Lenin, durch das Camp. Kosmisch illuminiert der Alte, von brachialen Phantasmen („Terror“, „elektrische Stühle“) getrieben der Junge. Merlin und König Artus im Irrgarten des historischen Materialismus.

Peter-Maria Reiher

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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