Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

scheinschlag 1/92

Nur der Schulmief fehlt noch

„Wenn Sie jemanden treffen, der meint, wir brauchen das Schulmuseum nicht, dann erzählen Sie ihm, was Sie hier gesehen haben." Kein Geringerer als Kultursenator Roloff-Momin klopfte den Mitarbeitern der einzigartigen Berliner Sammlung in der Wallstraße 32 auf die Schultern, als die Sonderausstellung über Neuerwerbungen eröffnet wurde. Einen schulmeisterlichen Verweis schickte er gen Westen, wo es an „gebotenem Respekt vor der Kulturleistung der DDR" fehle. Drei Atemzüge später kam natürlich der pflichtgemäße Dämpfer für hochfliegende Hoffnungen: Der Landeshaushalt sehe nicht rosig aus.

Die Anwesenheit der obersten Kulturbehörde glich die Abwesenheit des Schulsenators aus. Eigentlich brauchte es nur ein Zeichen, daß die europaweit einmalige Sammlung nicht aufgelöst und in alle Winde verstreut würde. Neue Arbeitsverträge für 1992 hatten die Mitarbeiter kurz vor zwölf noch erhalten. Sie sind befristet, bis ein Bericht von Roloff-Momin eine Klärung über die „modifizierte Fortführung" des Museums herbeiführen soll. „Gut Ding braucht gut Weile", tröstete der Senator. Für das 1875 gegründete städtische Museum werde es eine Zukunft in Gesamtberlin geben.

Foto: Jürgen Jabs in scheinschlag 8/95

Die Sonderausstellung ist ein sehenswerter Auftakt. Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum e.V. aus dem Westteil der Stadt wird gezeigt, was in jüngster Vergangenheit an Zeugnissen der Schulgeschichte hinzukam. Manches wurde geradezu aus der Mülltonne gezerrt. Man glaubt nicht, wie schnell sich DDR-Schulen entsorgten, radikal ausrangierten, egal, wieviel Staub auf alten Stücken lag. Aus dem Volksbildungsalltag sicherten die Museumsmitarbeiter 12000 Objekte, zum Teil auch mit Unterstützung von Lehrern, die beim Kehraus ihren gesunden Menschenverstand nicht gänzlich verloren hatten. Ein Schmuckstück sind physikalische Apparate und Geräte aus dem ehemaligen Andreas-Realgymnasium (jahrelang bekannt als Erweiterte Oberschule in der Koppenstraße), die Physiklehrer bis dato gesammelt und bewahrt hatten.

Die Ausstellung provoziert schmerzhafte Vergleiche ­ für den einen, weil die Erinnerung noch zu frisch ist und Zweifel aufkommen, ob da nicht die eigene Ausrüstung zur vormilitärischen Ausbildung hängt. Für die andere, weil aus Tiefen hochsteigt, wie sie selbst kurz vor Kriegsende aus einer Lehrerinnenbildungsanstalt nach Berlin flüchtete ­ das knittrige Empfehlungsschreiben mit dem Reichsadler gestempelt. Ein Dritter schreckt auf, wenn er die „Unbedenklichkeitserklärung" für Neulehrer liest. 47 Jahre, und kein bißchen weiser. Vor Tornistern und Schnürstiefeln oder dem Schulmeisterstuhl von 1750 kommt eher ein Lächeln. Es wird bitter, sieht man auf vergilbten Klassenfotos barfüßige Kinder. Oder liest man 27mal den krakelig verschmierten Satz der kleinen Sünderin Elise: „Ich darf nicht in der Schule schwatzen."

Das Verhältnis von Gezeigtem und Bestand schätzen die Mitarbeiter auf eins zu zehn. Eng nebeneinander lagern schulpolitische Dokumente und das ganz intime Foto oder Zettelchen, aus irgendeinem längst verschwundenen Schreibheft gerissen.

Größtes Dilemma des Museums ist wohl seine Hülle. In den dritten Stock einer Serien-Neubauschule verirren sich meist nur Kenner. Das trokkene Klima ­ im Sommer herrschen bis zu 40 Grad Celsius ­ läßt jahrhundertealte Bücher vor sich hin brökkeln. Die „modifizierte Fortführung" hat nach Meinung der Museumsleitung nur Zweck in anderen Mauern. In solchen, wo alter Schulmief die Kindheit noch näher brächte.

Uta Wilczok

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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