Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Assimilieren Sie sich!

Modernisierungswahn und Alkoholkultur: Berlin ist nur noch eine Großstadt

Ich wohne gar nicht mehr in Berlin. Ich bin nur zur Besuch hier, zum Arbeiten. Geldverdienen in einer Stadt, wo jeder fünfte keine feste Arbeit hat – strukturbedingt.

Ich komme in Neukölln an, im Reuter-Kiez. Das ist so ein bißchen wie Essen oder Bochum. Für Berlin bedeutet das, etwas abseits der Mitte zu sein. Einfache, normale Menschen, viele Migranten, die mit ihren Geschäften den Straßen etwas Urbanität und Kultur verleihen. Weiter drin im Kiez viel Leerstand, ab und zu ein Trödelhändler, der die Haushaltsreste von unbekannt Verstorbenen zu seinem Lebensunterhalt macht. Die Straßen sind ruhig, kein Chic, keine Extras.

Am nächsten Tag geht es dann nach Friedrichshain, wo ich die kommenden zwei Monate untergekommen bin. Mit Sack und Pack um den Hals und in beiden Händen überquere ich die Warschauer Brücke. Das Panorama gen Westen hat sich noch nicht verändert. Die Kollhoff-Planung für den Alexanderplatz steckt noch in den Kinderschuhen; wenigstens davon bleibt man verschont. Zurück auf dem vollen Gehweg fällt mir auf, daß die Punks fast ganz verschwunden sind. Kein Rumlungern und keine nach Außen getragene Scheißegal-Haltung gegenüber dem immer grausliger werdenden System. Das obligatorische „Euro?"- und „Fahrschein?"-Spiel ist nicht mehr angesagt oder trifft auf zuwenig Gegenliebe. Stattdessen mehr Menschen, die mit offener Hand auf dem kälter werdenden Boden sitzen. Weiter im Kiez finden sich plastiktütenbepackte Menschen, die alle Arten von Flaschen aufsammeln. Die „größte Reform am Arbeitsmarkt" hat Wirkung gezeigt, aber das Gros der Menschen hat sie verfehlt.

Am Boxhagener Platz angekommen, dann aber ein anderes, durch die Medien transportiertes Bild der neuen Berliner Gesellschaft: Junge Familien auf dem frisch eingezäunten Spielplatz neben frisch Verliebten auf dem frischen Grün der frisch eingezäunten Rasenfläche. Wozu Quartiersmanagement alles im Stande ist! Dem von Eintracht triefenden Bild entgegen stehen an den Zugängen zum Platz kleine Gruppen. Bei den ordentlich gewordenen Kiezbewohnern gelten sie als unbeliebtes Publikum. „Erfolg als Bedrohung" ist eine Wahlkampfparole aus dem Nordkiez, paßt aber an der Simon-Dach-Straße besser. Trotzdem haben sie alle auf und um den Boxi eines gemein: die trendbewußte Flasche anhaltinischen Billigbiers in der Hand. Egal, ob dabei ein Kinderwagen geschoben wird oder der metrosexuell gewordene Beckham-Iro zur Identitätsstiftung beiträgt. Egal ob früh- bis spätpubertierende kleine Horden die Kiezmagistralen herunterlungern oder intellektuell Etablierte im Fensterrahmen irgendeiner „Volx-Gastro" hängen: Alkoholkultur prägt das Bild dieser Stadt. Am Helmholtz- oder Kollwitzplatz wird der Geist zu dieser Tageszeit dann eher stilgerecht aus Gläsern konsumiert, fein abgestimmt zum letzten Gaumen-Kick auf der aktuellen Tageskarte.

Warum bin ich hier, weshalb fällt mir das auf und was macht diese Orte so ähnlich? Es sind die Stadtteile oder verwaltungstechnisch Bezirke, die im Osten des neuen alten Berlin liegen. Vielleicht zählen wir kleine Teile Kreuzbergs dazu, aber dahinter steht eben eine andere Geschichte. Und über diese vom Trend besessenen Gebiete, durch die die „Berliner Luft" eine ständig steigende Zahl von Touristen treibt, ist in den späten neunziger Jahren die „Neue Mitte" hereingebrochen, eine Welle der Totalverkonsumierung. Erinnert sich noch jemand an die SPD-„Vision" von der „Neuen Mitte"?

Ich selbst bin zu dieser Zeit aus Westdeutschland in eine sanierte Wohnung in der Kastanienallee gezogen. Ich fand das sehr aufregend damals. Der Osten war neu, er wirkte rauh und im Winter traurig. Er war anders als das, was ich kannte: fremd und deshalb spannend zu entdecken. Das daraus eine Eroberung werden sollte, kann man sich als Eroberer heute nicht mehr erklären. Die Eroberten selbst finden wir hier nur noch selten. Vielleicht in einem weniger hippen Straßenzug wie der Jablonski oder Fredersdorfer. Meistens urteilt sie der aufgeklärte Wessi als „PDS-Wähler" ab. Oder man raunt etwas von „rechten Protestlern" und vergißt, daß dieses Phänomen ebenfalls aus dem Westen importiert wird. Als die Wende noch jung war und die Entwicklung der zweiteiligen Stadt noch offen schien, ging eine westdeutsche Sozialisation, mit der beispielsweise Prenzlauer Berg heute zu über 80 Prozent unterwandert ist, als ehrenhaftes Gastgeschenk durch. Manch einer betrachtet es im Nachhinein als imperiales Gehabe in der unterworfenen Fremde.

Es war noch die gute alte Zeit des großen Herrn K., eines Regenten, der Blumen sehen konnte und unendliche Weiten. Er muß sehr glücklich gewesen sein, nachdem er das kleine Deutschland wieder angeschlossen hatte. Wie ein Elektriker-Lehrling, der einen alten Trafo wieder zum Surren bringt.

Dann kam die SPD daher, und eine Vision begann, ein Gesicht zu kriegen. Es schien zunächst besser zu werden. Der „Neue Markt" schuf eine Illusionsblase, die vielen vor dem Mund zerplatzte. In weiten Teilen des Berliner Ostens machte sich eine von Optimismus strotzende Aufkauf-Mentalität breit. Gab es 1998 noch eine Fleischerei und eine Kneipe in der Oderberger Straße, reihte sich quasi über Nacht eine Cocktail-Sushi-Indian-Retro-Hangout-Lounge neben die nächste. „Alternative" Prenzlauer-Berg-Kultur der frühen Nachwendezeit wurde fälschlicherweise mit Trend verwechselt, und somit bekamen Ampelmännchen, Kulturbrauerei und Kiezgefühl eine neue Wertung. Eine Vermarktungsstrategie, die sich der „guten alten Zeit" bedient, aber sich ihrer Seele entledigen muß. Wenn du hierbleibst, dann gewöhnst du dich dran. Wenn du einmal weg warst und plötzlich wieder hier bist, dann springt es dir ins Gesicht.

Inzwischen hat auch das grün-bürgerliche Publikum aus dem alten SO 36 hier seine neue Heimat gefunden. Während Teile Kreuzbergs vor sich hindarben, genießt man den Chic des Ostens, der keiner mehr ist und seine unmittelbare Nähe zur vermeintlichen Macht. Der in Beton und Stein gebaute „Modernisierungs"-Wahn hat inzwischen auch notgedrungen die Gesellschaft erreicht. Jemand, der hier geboren und aufgewachsen ist, der wird sich an seine Kindheit nur schwer erinnern können, vielleicht will er es auch gar nicht. Die Kapitalisierung hat jeden Ort zumindest gestreift. Auch wenn sich über Qualität streiten läßt ­ was blieb, ist für die neuen „Urbaniten": zum Kaufen und Sich-kaufen-Lassen. Das Gros der Boutiquen knüpft im Retro-Stil an die gute alte Zeit an. Irgendwann kommt vielleicht die salonfähige Neuauflage von NSDAP-Parteizeichen. Was man nur mit Geld bezahlt, kann ja an sich nicht schlecht sein.

Die Off-Kultur und Hausbesetzungen der frühen neunziger Jahre, der große Goldrausch der Nachwende, die wirkliche Neugier und der Optimismus sind Berliner Geschichte. Aber mit ihr sind auch Auseinandersetzungen verschwunden, Streitpunkte, für die man so undeutsch mit Emotion einstehen konnte. Wer kann, hat sich mit dem Bestehenden mehr oder minder arrangiert. Jene, die ihren persönlichen Nutzen daraus gezogen haben, veratmen die Spur von Anti-Kultur bei Tapas und Fingerfood ganz intellektuell (z.B. durch die Nase). Daß Punk schon damals tot war, kann man als Poplinker natürlich nicht wissen. Poplinke stinken ­ nach Geld. Auch das hat der Wechsel 1998 erreicht: Entpolitisierung durch Streichung von Inhalten. Die Fassade wird Agenda xy genannt, und selbst der Nachwuchs-Skin findet seinen Platz im demokratischen Spektrum. Je mehr die Jugendlichen (und die sich noch dazu zählen) an ihrem Dreßcode rumfeilen, desto weniger denken sie darüber nach. Che Guevara auf dem T-Shirt zu tragen impliziert keine politische Haltung. Seit Müntefering in seinen Tagebüchern über Ernteplagen nachgelesen hat, lohnt es sich selbst für Alt-Punks, in die SPD einzutreten.

Aber in der Mitte war bisher immer noch Platz. Berlin konzentriert und kompensiert wie eh und je, nur scheint die Stadt bald keinen Bock mehr zu haben. So viele Gegensätze in sich, und man bleibt immer einen Steinwurf von der Bannmeile entfernt. Berlin ist nicht mehr Berlin, sondern nur noch eine Großstadt.

Ein schönes Bild ergab sich in den letzten Wochen auf der ModersohnBrücke, als abends die Menschen aus dem Quartier dorthin pilgerten, um die glutrote Sonne am Alexanderplatz verschwinden zu sehen. Sie saßen entlang der Tragkonstruktion und schauten gemeinsam wie gebannt auf das Naturschauspiel in ihrem Fenster aus der Stadt. Links davon das Narva-Gelände, das lekkere Billigbier in der Hand, und irgendwann verdunkelte sich das Panorama. Doch bleibt man ein bißchen länger, schaltet der Hausmeister im Glaskubus seine Lichterketten an und entweiht mit seiner Leerstands-Illumination die Silhouette am nächtlichen Horizont. Wer von der S-Bahn kommt oder zur U-Bahn nach Kreuzberg will und seinen Blick von der Warschauer Straße dem Turm zuwendet, den verhöhnt der Würfel drohend: „Wir sind schon da, wir sind die Borg. Assimilieren sie sich!"

Stephan Eßwein

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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