Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

50 rote Rosen für eine Ohrfeige

Alice Creischer und Andreas Siekmann im Gespräch mit Beate Klarsfeld

Beate Klarsfeld kämpft gemeinsam mit ihrem Mann Serge seit über 40 Jahren für die Erinnerung an die ermordeten Juden Frankreichs und für die Verfolgung der Verbrecher des Nationalsozialismus. Sie lebt in Paris.

Alice Creischer: Sie und Ihre ganze Familie haben sehr aktiv für die Bestrafung der Naziverbrecher gekämpft. Wie kam es zu Ihrem Engagement, welches Ereignis hat Sie politisiert?

Beate Klarsfeld: Als ich 1960 nach Paris kam, sind mir mehr oder weniger die Augen geöffnet worden für das, was während des Krieges in Deutschland geschah. Mein Schwiegervater ist in Auschwitz ums Leben gekommen, die Familie meines Mannes hat wie durch ein Wunder in Nizza überlebt. Mir ist klar geworden, daß man, auch wenn man nicht selbst schuldig ist, doch eine moralische und historische Verpflichtung hat. Auslöser war die deutsche Bundestagswahl 1966, als Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler wurde. Kiesinger war nicht nur Mitglied der Partei, sondern auch stellvertretender Abteilungsleiter der rundfunkpolitischen Abteilung, ein Mann, der wußte, was militärisch und was in den Lagern geschah, und der seine ganze Intelligenz in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hatte.

Als Kiesinger gewählt wurde, arbeitete ich im deutsch-französischen Jugendwerk. Für mich war es unmöglich, daß ein Bundeskanzler ein ehemaliger Nazi war. Ich habe damals in einer französischen Zeitschrift namens Combat Beiträge veröffentlicht. Den dritten dieser Artikel hat das deutsch-französische Jugendwerk zum Anlaß genommen, mich zu entlassen.

Mein Mann und ich haben uns nach diesem Ereignis dazu entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Ich begann Vorträge an Universitäten zu halten, Dokumente über Kiesinger zu verteilen und Broschüren zu veröffentlichen. Wir hatten zunächst keine Öffentlichkeit. Jeder sagte mir, Kiesinger ist demokratisch gewählt worden, da kann man nichts tun. Daraufhin haben mein Mann und ich eine symbolische Aktion für den CDU-Parteitag in Berlin 1968 geplant ­ die Ohrfeige.

Andreas Siekmann: Die Ohrfeige stellt ja auch eine Übertretung von bürgerlichen Regeln des Einspruchs und der Konsensfindung dar.

Beate Klarsfeld: Als Kiesinger am letzten Tag seine Abschiedsrede vorbereitete, war es mir in einer Pause möglich, nach vorne ans Rednerpult zu kommen, ihn zu ohrfeigen und zu rufen: „Nazi Kiesinger abtreten!" Er wußte, wer ich war. Ich bin am selben Abend zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden. Ich hatte die Situation mit meinem damaligen Rechtsanwalt Horst Mahler vorbereitet. Berlin war noch unter dem Status der Alliierten, und als Französin hätte ich mich am nächsten Tag an den französischen Stadtkommandanten wenden können. Das machte sie nachdenklich, und so wurde ich bis zur Berufungsverhandlung auf freien Fuß gesetzt. Der Richter sagte: „Sie haben Gewalt angewendet". Ich sagte: „Die Gewalt ist, wenn man einen Mann wie Kiesinger der Jugend als Bundeskanzler aufdrängt". Die symbolische Handlung bestand ja auch darin, daß die Kinder die Nazis ohrfeigen – die Tochter ohrfeigt den Nazivater.

Alice Creischer: Wie hat die Presse reagiert?

Beate Klarsfeld: Selbst die Springer-Presse mußte urteilen, daß ein Jahr Gefängnis viel zu viel ist. Denn kurz zuvor wurde Rudi Dutschke an der Gedächtniskirche von einem Rechtsextremen blutig geschlagen, der nur 200 DM Geldstrafe zahlen mußte. Ein Vergleich war also gezogen worden.

Andreas Siekmann: Mit dieser Aktion haben Sie einen individuellen Weg gefunden, um ehemalige Nazis weiter zu verfolgen.

Beate Klarsfeld: Unsere Aktion bestand darin, immer da zu sein, wo die Nazi-Verbrecher auch waren, zum Beispiel die Aktionen in Südamerika, wo wir Klaus Barbie in Bolivien aufspürten. Das bedeutete auch, das eigene Leben in Gefahr zu setzen. Wir haben die Personen immer vor Ort aufgespürt und dort dann auch demonstriert.

Ich bin meistens alleine gewesen und hatte nicht viel andere Möglichkeiten. Als Einzelne muß man versuchen aufzurütteln. Wenn die Menschen sehen, daß man sich engagiert und sich dabei selbst nicht schützt, erzielt das Aufmerksamkeit, auch die Journalisten berichteten mehr.

Alice Creischer: Sie sind oft als typische Exponentin der 68er genannt worden. Wir haben den Eindruck, daß entgegen der allgemeinen Ansicht die sogenannten 68er die Naziverbrechen nicht genügend aufgearbeitet haben. Der Eindruck entstand bei uns vor allem durch den Rechtsruck nach der Wiedervereinigung, gerade im kulturellen Bereich und natürlich erst recht durch die rassistischen Morde und die Asylgesetzgebung in Deutschland. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der letzten zehn Jahre?

Beate Klarsfeld: Als ich damit anfing, über Kiesinger aufzuklären, hatte ich niemand, der mir helfen wollte. „Kiesinger ist eine Charaktermaske", hieß es. Niemand wollte sich dafür einsetzten. Erst nach der Ohrfeige habe ich es geschafft, eine Gruppe hinter mich zu bringen. Auf einmal verstand man, daß man mit der Spitze anfangen muß und daß es nicht genügt zu sagen: „Nazis gibt's doch überall, im Auswärtigen Amt, in der Justiz..." Aber die Linke hatte andere Probleme, es gab ja den Vietnamkrieg.

Die, die auf die Straße gegangen waren, waren aus moralischen Gründen gegen Kiesinger. Für sie war die politische Landschaft mit Brandt als Bundeskanzler bereinigt. Klar, wir konnten sagen, wir haben jetzt einen Widerstandskämpfer als Bundeskanzler, was ja wunderbar war. Diejenigen, die dann doch weitermachten, setzten sich in die verschiedensten Parteien ab, jeder verfolgte seine Politik. Ich blieb unabhängig, wie ich immer gearbeitet habe, ich habe mich nie einer Parteiregel unterworfen.

Mein Mann und ich hatten uns ab 1971 für das deutsch-französische Zusatzabkommen interessiert, die Strafregelung für die in Frankreich tätigen NS- Verbrecher. Sie wurden nach dem Krieg in Abwesenheit vom französischen Militärgericht verurteilt, kamen aber meistens nach Deutschland zurück und wurden dort Rechtsanwälte, Bürgermeister wie Heinrichsohn in Miltenberg oder der frühere Chef der Gestapo in Berlin Lischka oder Herbert Hagen, der frühere Eichmann-Chef. Als wir nach ihnen suchten, standen sogar ihre Namen im Telefonbuch ­ mit Ausnahme von Barbie, der sich in den fünfziger Jahren nach Südamerika abgesetzt hatte, oder Mengele. Aber unheimlich viele sind in Deutschland geblieben. Sie waren durch ein Gesetz abgesichert: durch das Abkommen, daß sie von deutschen Gerichten nicht verurteilt werden können. Wir haben uns dann für die Ratifizierung eines Zusatzabkommens eingesetzt, das diese Regelung aufhob. Aber Achenbach, der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses im Bundestag, boykottierte die Ratifizierungen zunächst. 1979 wurde der Prozeß gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn dann in Köln eröffnet, stellvertretend für die vielen. Sie wurden nach 35 Verhandlungstagen immerhin zu den Strafen verurteilt, die in Deutschland möglich waren. Es galt ja nur als Beihilfe zum Mord ­ das war zwischen sechs und zwölf Jahren. Dieser Prozeß hatte aber nicht nur zur Folge, daß sie verurteilt wurden, sondern daß die deutsche Gesellschaft sie verurteilen mußte. Es war auch ein Prozeß, der mit Dokumenten geführt wurde, die wir überall gesammelt hatten. Insbesondere hier in Paris haben wir viele Originale gefunden. Die Verantwortlichen konnten sich folglich nicht herausreden. Sie saßen nicht irgendeinem Zeugen gegenüber, dem sie hätten sagen können, das stimmt nicht. Die Dokumente bewiesen ihre Schuld mit den Unterschriften, die sie zur Festnahme, zur Deportation der Juden gegeben hatten. Das war ein symbolischer Prozeß.

Alice Creischer: Besonders die ökonomischen Kontinuitäten der nationalsozialistischen Unternehmen sind für uns wieder offensichtlich geworden in der Debatte über die Entschädigungszahlungen an die ehemaligen Zwangsarbeiter. Wie beurteilen Sie das?

Beate Klarsfeld: Nach dem Krieg wurden mit dem Vertrag von Adenauer und David Ben Gurion Renten eingerichtet, eine Wiedergutmachung an den vom Naziregime Geschädigten. Ausgeschlossen wurden die nichtjüdischen Zwangsarbeiter aus den östlichen Ländern, die in den Fabriken gearbeitet und viel gelitten haben und heute unter ganz schlechten Bedingungen leben.

Andreas Siekmann: Heute wird das „freie humanitäre Hilfe" genannt im Gegensatz zu den „Entschädigungszahlungen", die durch den Begriff der Entschädigung einklagbar waren – also einmalige Zahlungen. Sie haben sich bei der Verfolgung der Naziverbrechen auch oft in Südamerika aufgehalten.

Beate Klarsfeld: Wir haben uns hauptsächlich für die Verantwortlichen der Judendeportationen aus Frankreich interessiert. Klaus Barbie war der Gestapo-Chef von Lyon. Er emigrierte nach Bolivien. 1971 haben wir ihn dort aufgespürt. Später wurde er dann in Frankreich, in Lyon, zu lebenslanger Haft verurteilt, auch Dank meiner Aktion in Bolivien, dort nach ihm zu recherchieren, zu demonstrieren, die Auslieferung zu fordern. Dann gab es Mengele, den ich erst in Paraguay verfolgte. Dort war er registriert und man hatte ihn dort noch gesehen.

Andreas Siekmann: Aber ihn haben Sie nicht gefunden?

Beate Klarsfeld: Nein, als man ihn aufspürte, ging er rüber nach Brasilien. Wir hatten damals seinen Sohn in Berlin überwacht und wußten, daß dieser nach Brasilien gefahren war. Bloß, wir selbst hatten nicht die Möglichkeit, ihm zu folgen. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt sagte zu uns, daß sie ihn nicht außerhalb deutschen Grenzen verfolgen könne.

Gegen Mengele haben wir in Paraguay zusammen mit den Familien der Verschwundenen demonstriert. Ich hatte eine Belohnung für Hinweise über Mengele ausgesetzt. Was die Firma Mengele in Günzburg anbetraf, konnten wir dort zunächst auch nicht recherchieren. Erst später und nachdem wir viele Aktionen unternommen hatten, war die deutsche Staatsanwaltschaft bereit, in Günzburg zu recherchieren. Dort fand man dann Dokumente, die bewiesen, daß Mengele sich in Brasilien aufgehalten hatte und dort ertrunken war.

Alice Creischer: Sind Sie öfter bedroht worden?

Beate Klarsfeld: 1972 in Paris haben wir eine Bombe ins Haus bekommen. Sie war aus Dynamit mit Nägeln in einem kleinen Kästchen. Gott sei Dank hatten wir das Paket nicht aufgemacht. Dann wurde unser Auto in die Luft gesprengt, als 1979 im Bundestag über die Fortsetzung der Verfolgung der NS-Verbrecher abgestimmt wurde. Ich bin damals dafür eingetreten, daß sie weiter verfolgt werden sollten. Eine Gruppe, sie nannten sich ODESSA, hatten auch ein Flugblatt ins Auto gelegt.

Alice Creischer: Sie haben in Frankreich von der Ehrenlegion auch eine Anerkennung für ihre Arbeit bekommen. Wie sieht es in Deutschland aus?

Beate Klarsfeld: Heinrich Böll hat mir nach der Ohrfeige 50 rote Rosen nach Paris geschickt.

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 8 - 2005 © scheinschlag 2005