Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1905

29. September bis 26. Oktober

Ein Doppelleben führte lange Zeit eine junge Frau, bis die Kriminalpolizei diesem Treiben jetzt ein Ende setzte. Die 26jährige war früher als Stewardeß auf Ozeandampfern und viel gereist. In Amerika lernte sie einen Mann kennen, der sie heiratete, aber bald wieder sitzen ließ. Nun kehrte sie aufs Schiff zurück und kam nach Norwegen. Dort verwandelte sie sich, um besser durch das Leben zu kommen, in einen Mann und arbeitete in einer Schreibmaschinenfabrik zur größten Zufriedenheit, bis die Sehnsucht nach ihrer Mutter, die in Berlin lebte, sie wieder hierher trieb.

Seit Februar 1905 lebte sie als Frau und hatte eine Schlafstelle in der Kastanienallee. Dann ließ sie sich das Haar abschneiden, verkaufte es für sechs Mark, schaffte sich nun Männerkleider an und wurde wieder ein Mann. Sie wußte die Maske in allen Teilen sehr täuschend zu gestalten, auf den Namen ihres Mannes gemeldet, war sie acht Tage in einer Fabrik beschäftigt. Weil ihr jedoch diese Arbeit nicht zusagte, ging sie zu einem Malermeister, stieg kühn auf die höchsten Gerüste und arbeitete als Geselle.

Der Meister war sehr zufrieden, und die Täuschung hätte wohl noch lange gedauert, wenn nicht die Wirtsleute in der Kastanienallee gewesen wären. Diesen hatte die abenteuerlustige junge Frau zur Erklärung ihres seltsamen Gebarens allerhand vorgeflunkert. So hatte sie auch erzählt, sie habe bei einem hiesigen Regiment einjährig gedient und sei fahnenflüchtig geworden. Deshalb trage sie zuweilen als Mann noch Frauenkleidung, wenn sie glaube, daß ihr Gefahr drohe.

Bald erfuhr auch die Polizei davon, und Beamte holten den fleißigen Maler in der Pappelallee vom Gerüst herab zum Verhör. Hierbei fand das Doppelleben eine harmlose Aufklärung, aber zugleich auch sein Ende. Zwar könne die Frau in ihrer männlichen Kleidung noch nach Hause gehen, dürfe sie aber nicht mehr anlegen. Die junge Frau ist über diese Maßregel und die geringe Ordnungsstrafe, die sie trifft, einigermaßen erstaunt und will nach England oder Amerika gehen, wo sie ungestört nach Belieben auch als Mann leben könne. Beim Verlassen des Polizeipräsidiums stopft sie sich eine frische Pfeife und zieht mächtig qualmend von dannen.

Wir haben es hier wohl mit Transvestismus zu tun, dem Verkleidungstriebe, der darin besteht, die Kleider des dem eigenen entgegengesetzten Geschlechtes anzulegen und, wenn möglich, in der Öffentlichkeit zu tragen. Es kommt aber beim Transvestismus nicht auf den äußeren Akt des Kleideraustausches an, sonst müßten auch die Teilnehmer der in manchen Großstädten stattfindenden „Bösen-Buben-Bälle" als Transvestiten bezeichnet werden. Die Besucher dieser Bälle sind aber meist nur sogenannte Cisviten, die die Kleidung einer anderen Altersstufe, Volks- und Berufsklasse des gleichen Geschlechtes zum Zwecke sexueller Befriedigung anlegen und nicht etwa die des anderen Geschlechtes.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Tabagien, Berliner Bordellwirtschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, wo man speisen, rauchen und tanzen konnte und wo auch Mädchen im Hause selbst zur Verfügung standen, während andere Tabagien nur von Mädchen besucht wurden, die dort ihre Kunden suchten. Zu den berühmtesten gehörte „Der zottige Jude" in der Französischen Straße, das „Posen" in der Friedrichstraße, wo es sehr nobel zuging, die „Talkfabrike" in der Kanonierstraße, wo die Mädchen fast unbekleidet waren, sowie „Heil und Leger". Von den Tabagien niederster Klasse waren die bekanntesten „Der schwarze Kater" in der Linienstraße, die „Rote Plumpe", die „Blecherne Kutte", die „Scharfe Ecke" und der „Lahme Gerber" vor dem Spandauer Tor, der „Lahme Frosch" in der Jägerstraße, sowie die „Trahnpule" in der Besenstraße.

Schon in der Antike scheinen Trachtvertauschungen vorgekommen und als anormal oder gar entehrend gewertet worden zu sein, es sei hier nur auf Lucians Göttergespräche verwiesen. Dort macht Juno dem Jupiter Vorstellungen, weil sein Sohn Bacchus mit einem weiblichen Kopfschmuck mit rasenden Dirnen tanze.

Falko Hennig

5. Oktober, 20.30 Uhr im NBI: Radio Hochsee, Themenabend Absinth, Gast-Experte: Dr. med. Jakob Hein, weiteres unter www.Falko-Hennig.de

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