Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Am Anfang war das Bier

Kino- und Brauereiensterben im Barrikadenviertel

Der Kindl-Boulevard in der Neuköllner Hermannstraße ist wohl unbestritten die interessanteste Shopping Mall der Stadt. Diskussionen, wie sie seit den neunziger Jahren über die Privatisierung des öffentlichen Raums und damit verbundene, zunehmend sterile Lebensräume geführt wurden, scheinen diesen Ort nicht einmal gestreift zu haben, weshalb sich im Kindl-Boulevard auch niemand daran gebunden fühlt. Für die Betreiber scheint das Einkaufszentrum zwar ein ziemlicher Flop zu sein, denn man kann immer wieder Schilder bewundern, die wahlweise den Räumungsverkauf einzelner Läden oder hoffnungsfrohe Neueröffnungen anzeigen.

Dafür hat sich die ortsansässige Bevölkerung auf ihre Weise des 1996 eröffneten Konsumtempels angenommen und konsumiert, wie es hier seit über 100 Jahren Brauch ist, nämlich Bier. Der harte Kern trifft sich dazu vor Kaiser's und mißbraucht die Stehtische der Bäckerei als Ersatztresen. Hier ist es schließlich auch bei Regen trocken, und für Nachschub ist ebenfalls gesorgt. Der etwas gehobenere Zecher schlürft beim Italiener sein Bier und bejammert samstags die Niederlagen von Hertha. Die Grenzen sind aber beileibe nicht streng gezogen, so daß keine Zweiklassen-Gesellschaft entstehen kann. Etwas gesitteter geht es im ein paar Meter entfernten Café Miracle zu. Hier treffen sich die eher älteren Semester, und am Wochenende kann man beim Tanzkränzchen zu deutschem Schlager das Tanzbein schwingen.

Ohne Bier wäre diese Gegend auch kaum vorstellbar. Genaugenommen war es schon da, bevor die ersten Menschen hierher auf die Rollberge zogen. Und zwar in Form der „Vereinsbrauerei der Berliner Gastwirthe zu Rixdorf" und eines dazugehörigen Biergartens, der genau hier 1874 auf einer Fläche von 10000 Quadratmetern seine Tore öffnete. Um Menschen in diese damals noch sehr abgelegene und von Berlin aus schwer erreichbare Gegend zu locken und damit den Bierverkauf anzukurbeln, veranstalteten die Pächter des Gartens allerlei Volksbelustigungen. Der Gesangsverein „Gartenlaube" trat hier auf, und auf einer Freilichtbühne konnte man sich „Possen mit Gesang" wie Der geschundene Raubritter um Mitternacht zu Gemüte führen während die mitgebrachten Gören auf dem Spielplatz spielten oder die anderen Gäste belästigten. Außerdem banden die Betreiber eine Reihe von Vereinen an sich, die hier fortan ihre als Versammlung getarnten Besäufnisse abhielten. Hier trafen sich die „Rixdorf-Britzer Geflügelfreunde" genauso wie der „Wahlverein der Liberalen für den Wahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg" oder die „Schützengilde zu Rixdorf", die am Rande des Gartens sogar eigene Schießstände errichten ließ und deren Mitglieder wohl auch im Vollrausch noch einigermaßen treffsicher waren.

Hauptanliegen der Berliner Gastwirthe zu Rixdorf blieb ohnehin der Bierverkauf. Seit die Brauerei 1891 erstmals ein Bier nach Pilsener Brauart mit dem Namen „Berliner Kindl" auf den Markt brachte, lief das Geschäft auch hervorragend. Vielen Berlinern gilt dieses Getränk heute allerdings als der Inbegriff einer Plörre übelster Sorte. Historisch betrachtet aber völlig zu Unrecht, denn die Biere, die zuvor in Berlin gebraut wurden, müssen noch scheußlicher gewesen sein. Bereits um 1300 mußte der Rat der Schwestergemeinden Berlin und Cölln seine Bierpolitik liberalisieren und auswärtige Sorten zulassen, weil das in der Stadt gebraute Gesöff als schlicht ungenießbar galt. Das hiesige Leib- und Magenbier war stattdessen lange Zeit das Bernauer Bier, ein dunkles, obergäriges, auch nicht übertrieben leckeres Bier, das man vor ein paar Jahren als Bernauer Festbier wieder auf den Markt warf.

Die heute üblichen untergärigen Biere braut man in Berlin erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Kurz darauf, während der Gründerzeit, kamen allerdings auch betrügerische Aktiengesellschaften auf, die ihren Aktionären eine immense Dividende garantierten und deshalb an den Zutaten sparten. Das Ergebnis war ein Getränk, das man damals „Dividendenjauche" nannte, dessen berüchtigste ganz in der Nähe, in der Bergbrauerei Hasenheide verbrochen wurde. Vor diesem Hintergrund muß das Berliner Kindl damals als wahre Wohltat erschienen sein, und es wird bis heute hier in der Gegend gerne getrunken. Das wird sich auch nicht ändern, wenn die Neuköllner Kindl-Brauerei Anfang nächsten Jahres schließt, weil Kindl inzwischen, wie Schultheiss und Berliner Pilsener, zum Dr. Oetker-Konzern gehört und dieser nur noch eine Großbrauerei in Berlin zu betreiben gedenkt, zudem der jährliche Pro-Kopf-Bierverbrauch in den letzten zehn Jahren um über 18 Liter zurückgegangen ist und davon besonders die prolligen Biersorten wie Berliner Kindl betroffen sind. Beim Bäcker vor Kaiser's trinkt man lieber gleich Oettinger.

Als es noch nicht darum ging, die Brauerei zu schließen, sondern sie gerade erst in Betrieb genommen wurde, kam kurz darauf die Stadt hinterher. Mit dem Rollbergviertel entstand um die Jahrhundertwende in direkter Nachbarschaft das erste einheitliche, städtische Wohngebiet des damaligen Rixdorf. Und eines der berühmt-berüchtigsten überdies. Berüchtigt für seine ins Auge springende Armut und seine besonders harschen Wohnbedingungen, mit Räumen ganz ohne Tageslicht, mit einer der größten Bevölkerungsdichten Berlins und besonders vielen TBC-Kranken. Berühmt als rote Hochburg in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, als die Häuserwände hier jeden ersten Mai ein einziges rotes Fahnenmeer waren und das Rollbergviertel eine der Hochburgen der Mieterstreiks war, aber vor allem wegen des Blutmais 1929, an dem die Polizei hier, wie am Nettelbeckplatz in Wedding, wahllos alles abknallte, was sich bewegte ­ nicht nur diejenigen, die dem sozialdemokratischen Verbot der Mai-Demonstrationen trotzten und trotzdem zu Zigtausenden auf die Straßen strömten. Seitdem nennt man die Ecke auch Barrikadenviertel.

Bereits 1889 organisierte die Berliner Arbeiterbewegung einen Boykott gegen Wirte, die der organisierten Arbeiterschaft zu Zeiten der Sozialistengesetze keine Räume für Versammlungen zur Verfügung stellen wollten. „Vermeidet die Abhaltung von Vergnügen bei denjenigen Lokalbesitzern, die Euch nicht gern sehen. Verzehrt Eure Groschen da, wo Ihr zu allen Gelegenheiten Aufnahme findet", hieß es in dem Aufruf der „Kommission zur Regelung der Berliner Lokalfrage", der sich auch gegen die Vereinsbrauerei Rixdorf richtete, und verwies damit auf eine durchaus vorhandene Marktmacht der Arbeiterklasse. Mit der Boykottbewegung konnte sich die Arbeiterbewegung dann auch tatsächlich durchsetzen und die nötigen Versammlungsräume erstreiten. Dabei hatte der Biergarten, in dem nach und nach auch wetterfeste Gebäude entstanden und aus dem sich nach dem Ersten Weltkrieg die „Kindl-Festsäle" entwickelten, überwiegend bürgerliches Publikum. Insbesondere die Nachbarn aus dem Rollbergviertel konten sich die Vergnügungen dort nur an besonderen Festtagen leisten.

In den zwanziger Jahren entwickelte sich die Hermannstraße zu der Kinomeile Berlins schlechthin, was sie bis in die sechziger Jahre auch blieb. Auf dem Gelände der Kindl-Brauerei war man es schon immer gewohnt zu klotzen, und so entstand neben den Kindl-Festsälen, dort, wo heute der Kindl-Boulevard ist, das größte Lichtspieltheater Europas. Der Mercedes-Palast bot Platz für 2680 Besucher, inklusive 180 Logenplätzen und verbannte den Biergarten in den schattigen Hinterhof. Der gemeine Neuköllner konnte sich auch dieses Vergnügen nur sehr selten leisten. Bereits 1930 schloß das Kino denn auch das erste Mal kurzzeitig und vermietete die Räume für andere Veranstaltungen wie die 12-Jahres-Party der Roten Fahne und machte damit den benachbarten Kindl-Festsälen Konkurrenz. Während der Nazizeit blieb der Mercedes-Palast die meiste Zeit geöffnet und führte noch 1943 eine Operette des „Theater- und Unterhaltungsvereins Neukölln-Hanseata-Britz e. V." auf.

Ab 1947 wurden in dem wieder halbwegs reparierten Mercedes-Palast zunächst Theaterstücke aufgeführt, und ab 1949 eröffnete ein Behelfskino im Foyer unter dem Namen Metro-Palast. 1951 war auch der große Saal wiederhergestellt, und das Kino nahm unter dem Namen Europa-Palast erneut für bis zu 2600 Besucher den Betrieb auf. 1955 bauten die Betreiber sogar noch das Foyer zu einem vergleichsweise fipsigen Kinosaal um, der unter dem Namen Roxy aber auch immerhin 700 Leuten Platz bot. Mit dem allgemeinen Kinosterben in den sechziger Jahren verschwanden auch die beiden Lichtspielhäuser neben den Kindl-Festsälen und wichen 1969 dem Woolworth-Konzern, der die Gebäude in ein Kaufhaus umbauen ließ. Die Kindl-Festsäle hielten sich noch bis 1989. Bis zuletzt fanden hier politische Versammlungen, Vereinsfeste oder türkische Hochzeiten statt. 1992 versuchten ein paar beherzte Neuköllner erfolglos, das leerstehende Gebäude in ein Kiezzentrum zu verwandeln, indem sie es besetzten, bevor Woolworth hierher umzog, um dem Neubau des Kindl-Boulevards zu weichen.

Mit dem Kindl-Boulevard kam auch der Film zurück. Ganz hinten werben heutzutage die Rollbergkinos um Gäste, und in der Nähe des Eingangs kann man sich Videos ausleihen. Dazu muß man allerdings seine Fingerabdrücke hinterlassen, die zur Aufklärung von Straftaten auch der Polizei überlassen werden dürfen. Damit ist wohl die gesamte Bevölkerung des Rollbergviertels erkennungsdienstlich behandelt. Die ist nämlich auch nach dem fast kompletten Abriß und anschließendem Neubau des Viertels in den sechziger und siebziger Jahren verrufen wie eh und je und schon von daher unter besonderer Beobachtung der Obrigkeiten in Form von Polizei, Sozialarbeitern und der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land, der das Viertel gehört.

Dirk Rudolph

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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