Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1905

1. bis 28. September

Die Reisezeit ist vorüber, und für Berlin beginnt die Zeit der Logierbesuche und „Provinzonkel". Von allen Seiten kommen sie herbei, die lieben Vettern und Basen. Es ist auch gerade die Einkaufszeit, und die Kinder brauchen neue Winterkleider – also man kommt; man wird dem Onkel und der Tante an der Spree die „Freude" machen: Logierbesuch – Schreckenswort!

Ja, wenn es nur die Umwälzung im Hause wäre, die er mit sich bringt, die ließe man sich am Ende noch gefallen. Der Besuch hat aber auch sonst noch allerlei Ansprüche, er will vor allen Dingen „etwas sehen", man soll auch „Bärenführer" spielen, Berlin zeigen!

Also vorwärts! Zeigen wir unserem Besuch die deutsche Reichshauptstadt. Bleibt nur die Frage: Was zeigen wir ihm davon? Diese Frage wäre leicht zu beantworten? Na ja, wie man es nehmen will. Wer einfach die Linden, den Tiergarten, den Alten Fritz, das Kaiser-Denkmal, das Schloß und das Museum, vielleicht auch noch den Zoologischen Garten vorführt, der ist mit der Frage allerdings schnell fertig. Sie erfordert aber eigentlich doch mehr Nachdenken und ist gar nicht so obenhin zu beantworten, wenn das Berlin-Zeigen nicht für beide Teile zur Quälerei werden soll.

„Die posensche Verwandtschaft war gräßlich", erzählt Tante Luise noch heut voll Schauder. „Unter den Linden ja – da gefiel es ihnen, im Zoo und im Schloß auch, aber im Museum, ach du meine Güte!" Ja, liebe Tante Luise, warum gingst du mit der posenschen Verwandtschaft denn in das Museum? „Nun, man ´muß' doch im Museum gewesen sein!" Sehr richtig – wenn man ästhetische Bedürfnisse hat, aber nicht, wenn man nah bei Russisch-Polen Schweine züchtet.

Es gibt Menschen, die bei Russisch-Polen Schweine züchten und sich weder für Bilder noch Möbel begeistern und die doch im Landwirtschaftlichen Museum anregende Stunden verleben.

Nein, es ist nicht so einfach, den Fremden Berlin zu zeigen. Wer seinem Besuch und sich das Leben angenehm machen will, der muß sich aus der Fülle unserer Sehenswürdigkeiten eben die heraussuchen, die der Individualität des Gastes angepaßt sind; das ist aber auch gar nicht schwer. Berlin bietet so viel, daß sich wohl für jeden etwas finden läßt. Das Berliner Straßenleben interessiert alle, die Linden, die Friedrich-, die Leipziger Straße, das Schloß, der Lustgarten, der Tiergarten mit der Siegesallee, das Gewühl in einem Großbasar sind Sachen, die allen Provinzbewohnern Vergnügen machen.

Droschkenfahrten sind teuer und bereiten dem Gastgeber hohe Unkosten. Eine Fahrt im Sommerwagen der Elektrischen oder oben auf dem Omnibus durch die ganze Stadt gibt dem Fremden aber auch ein höchst interessantes Bild von Berlin.

Und unsere Sehenswürdigkeiten. Das Museum muß man gesehen haben. Warum gerade „das" Museum, worunter der Berliner stets das Alte Museum im Lustgarten versteht? Berlin hat der Museen mehr. Der Onkel aus Posen, der vor Boticellis Schwindsuchtskandidatinnen Gähnkrämpfe bekam, und die Tante, die vor Apoll die Augen niederschlug, hätten im Landwirtschaftlichen Museum vielleicht ein paar anregende Stunden verlebt. Daß es ein Kunstgewerbe-Museum, ein Hohenzollern-Museum, ein Museum für Völkerkunde und noch so manche andere Sammlung in Berlin gibt, die gerade einer persönlichen Neigung des Gastes Interesse abfordern würden, scheint so manchem „Bärenführer" niemals in den Sinn zu kommen.

Und endlich: Muß man denn durchaus ins Museum gehen? Es gibt Menschen, die sich weder für Bilder noch Möbel noch sonst welche Sammlungen begeistern können; die sollte man billigerweise mit jedem Museum verschonen. Ein Gang durch die Markthallen, ein paar Fahrten mit der Stadt- und Ringbahn um Berlin herum, mit der Hochbahn „drüber weg" und „unten durch", das wird fast jeden intelligenten Menschen interessieren. Vielen „Auswärtigen" wird dann zur Erholung ein Sonntagnachmittag in einem volkstümlichen Berliner Biergarten mehr Vergnügen machen als alle Museen zusammengenommen. Und dem Bärenführer meistens auch!

Falko Hennig

Foto: Archiv Falko Henning

* Am 7. September um 21 Uhr lädt Falko Hennig zum Themenabend Cash& Dylan mit Mario Weber in die nbi, Schönhauser Allee 157, Prenzlauer Berg. Weiteres unter www.Falko-Hennig.de

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