Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

WÄHLEN!!

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Wahlhilfe: Man schneide die Dartscheibe entlang der Markierung aus und klebe sie auf eine feste Unterlage. Am Wahlsonntag nehme man einen Pfeil und werfe ihn mit geschlossenen Augen auf die Scheibe. Das Kreuz auf dem Wahlzettel mache man bei der Partei, deren Segment getroffen wurde. (Die ersten sechs scheinschlag-Leser, die am Dienstag den 6.9. zwischen 18 und 19 Uhr in der Redaktion vorbeikommen, bekommen einen Dartpfeil zur Wahrnehmung ihres Wahlrechts.

Kann es Zufall sein, daß die Nordseeinsel Amrum im August von keinem einzigen Wahlplakat verunziert wurde? Ist es denkbar, daß es in den Parteien ein Sensorium dafür gibt, daß die Visagen von Merkel&Co. die Urlauber bloß verärgern würden – in einem Wahlkampf, den außer Gerhard Schröder, der CDU samt FDP und ihr nahestehender Lobbyisten eigentlich niemand will? Alles deutet darauf hin, daß größere „Bevölkerungsteile", um einen Terminus von Edmund Stoiber aufzugreifen, sich diese Scheinauseinandersetzung als Sommertheater nicht aufzwingen lassen wollen, mit Desinteresse darauf reagieren oder aber – in größerer Zahl als erwartet – nach Alternativen suchen, nach Möglichkeiten, mit ihrer Stimme wirksam zu protestieren zumindest.

Angesichts der optischen Umweltverschmutzung, die uns auch dieser Wahlkampf wieder zumutet, kann man schon schadenfroh werden. Denn auch die avancierteste Werbeindustrie scheint noch kein Rezept gefunden zu haben, alte, häßliche, häufig dumm aussehende, in jeder Hinsicht durchschnittliche Menschen als Medienstars zu verkaufen. Dabei muß den ganzen Hinterbänklern von Petra Merkel bis Eberhard Diepgen, deren Fressen in diesen Tagen wieder die ganze Stadt überziehen, wenigstens noch Ehrlichkeit attestiert werden. Denn die kleinen Plakate, welche Porträtfotos, den Namen des Kandidaten und den seiner Partei kombinieren, verkünden keine andere Botschaft als die: „Ich möchte in den Bundestag gewählt werden!"

Manche mögen ja gedacht, vielleicht sogar gehofft haben, auch in Deutschland werde sich endlich die Amerikanisierung der Politik vollenden: mit zwei großen Parteien, die für eine identische neoliberale Politik stehen und in Wahlkampfzeiten das Wahlvolk mit Scheindebatten hinters Licht führen, um schlichten Gemütern „ehrliche" demokratische Auseinandersetzungen vorzugaukeln, in denen es um (die „besseren") Argumente gehen würde. Die Grünen und die FDP als beliebig einsetzbare Mehrheitsbeschaffer würden das Spiel nicht behindern und die PDS nicht mehr in den Bundestag kommen. Aber daraus wird (vorerst) noch nichts. Plötzlich taucht die Linkspartei als Störfaktor auf und bringt als einzige politische Kraft etwas Leben in das abgekartete Spiel dieses Wahlkampfs. Die hysterische Aufregung quer durch das gesamte Spektrum der etablierten Parteien läßt nur einen Schluß zu: Gysi, Lafontaine und ihre gemeinsame Partei in spe müssen eine ganze Menge richtig gemacht haben. Jenseits der Debatte, ob diese Partei nun eine diskutable linke Programmatik vorzuweisen hat oder nicht (wohl nicht), scheint mir ein Aspekt noch viel wichtiger: Mit einer Stimme für die Linkspartei ist es jetzt immerhin möglich, gegen den neoliberalen Einheitsbrei von Rot-gelb-schwarz-Grün zu protestieren, ohne als Ostalgiker oder Nazi dazustehen.

Derweil nimmt der Wahlkampf geradezu kabarettistische Züge an. Gerhard Schröder, der so felsenfest zu seinem „Reformkurs" steht, daß er sich eher steinigen lassen würde als davon abzuweichen, mimt mit ernster Miene den Entschlossenen, während auf SPD-Plakaten für den Sozialstaat geworben wird, den einzureißen diese Partei gerade dabei ist. Genauso unglaubwürdig wie das sichtlich gezwungene Lächeln von Angela Merkel ist das Gerede vom „Richtungswahlkampf", wo doch klar ist und auch aus allen Programmen spricht, daß es nach den Wahlen ­ mit oder ohne erhöhte Mehrwertsteuer, mit einem um drei Monate verschobenen Atomausstieg oder auch nicht ­ im selben Fahrwasser weitergehen wird.

Politik als vollendetes Spektakel: Bis zum 18. September wird den Wählern suggeriert, es gebe Alternativen und politische Handlungsspielräume, am Montag darauf ist dann wieder von Alternativlosigkeit und Sachzwängen die Rede. Aber irgendwie scheint die Inszenierung nicht ganz zu gelingen in diesem hektisch angezettelten Wahlkampf, beherrschen die Darsteller ihre Rollen nicht ganz. Ist da neben Schadenfreude auch Hoffnung erlaubt? So viele wie noch nie werden gar nicht erst zur Wahl gehen. Es wird alles so bleiben, wie es ist. Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten. Ja, und ob der sechsmillionste Arbeitslose von Merkel, Schröder oder sonstwem begrüßt wird, ist doch eigentlich egal, oder?

Peter Stirner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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