Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Vom Wegwerfartikel zur Kunst

Sammeln als künstlerische Strategie

Genaugenommen ist auch dieser Text eine Sammlung – eine Textsammlung nämlich, die Informationen zum Sammeln bündelt. Wie jeder Sammlung liegt auch dieser ein Ordnungssystem zugrunde: Es gibt erstens Menschen, die etwas ansammeln – z.B. Schuhe –, weil sie nicht loslassen können. Tun sie das exzessiv, werden sie schnell als Messies und somit als krank abgestempelt. Dem gegenüber geplanter sammelt zweitens der konventionelle Sammler, der sogenannte Hobbysammler. In dieser Kategorie gibt es nichts, was nicht gesammelt wird, von A wie Ansichtskarte bis Z wie Zwerg. Und dann gibt es drittens das künstlerische Sammeln, wobei im Ergebnis Kunstwerke aus Gesammeltem entstehen.

Eine faszinierende an/sammlung zeigte soeben das Wiener Volkskundemuseum. Über drei Generationen hatten die Bewohner einer Salzburger Jahrhundertwendevilla nichts weggeworfen, seit ca. 1870. Bis unter das Dach, so daß sich nur noch die Zimmer des ersten von zwei Stockwerken betreten ließen, war das Haus angefüllt mit Objekten der Alltagskultur, mit Zeugnissen des Lebens. Und alles war mit einer unglaublichen Sorgfalt geordnet in tausenden Päckchen, Schachteln, Kisten, beschriftet und kommentiert. In einer Schublade Skiwachs aus mindestens fünf Jahrzehnten, Schachteln voll mit Seife und Waschpulver ordentlich auf dem Dachboden verstaut, Garnreste fein säuberlich sortiert in Kakaodosen, bunte Plastiklöffel in kleinen Säckchen, abgenutzte Messer in Papier gewickelt und als solche beschriftet.

Nicht zuletzt diese penible Ordnung war es, die die Erbin und Kuratorin Cornelia Meran davon abhielt, die Dinge als „Müll" zu definieren und zu entsorgen. In der Häufung der Gegenstände, der Quantität einer Serie nämlich, bekommt ein banaler Alltagsgegenstand eine neue Qualität. „Eine Flaschenbürste ­ zu vernachlässigen als banales Haushaltsgerät, aber 35 davon?" Durch ihre Systematisierung, Zusammenstellung und Kombination erzeugen die angesammelten Dinge eine Faszination beim Betrachter, zum einen aufgrund der an den Objekten ablesbaren Zeit und deren Veränderung in ihr, des weiteren wegen der Geschichten, die sich sofort entspinnen, und nicht zuletzt wegen der Ahnung von einem abnormalen Umgang mit den Alltagsgegenständen. Bei aller Sparsamkeit gibt es in unserer Gesellschaft nämlich das Gebot, eine gewisse Distanz zur übermäßigen Anhäufung von Dingen zu wahren. Unbrauchbares gehört aussortiert. Der Besucher kann hier genüßlich Voyeur sein und in die Schränke ihm unbekannter, noch dazu sonderlicher Personen schauen.

Der gemeine Hobbysammler strebt in seinem Sammelgebiet nach dem Besonderen, nach Vollständigkeit und schafft sich so einen überschaubaren Mikrokosmos innerhalb dessen Erfolgserlebnisse garantiert sind. Seine grenzenlose Leidenschaft und Begeisterung teilt er oft nur mit seinesgleichen und erntet ansonsten häufig Kopfschütteln.

Wodurch aber unterscheidet sich künstlerisches Sammeln von jenem banalen? Zunächst einmal sammelt der Künstler genauso wie jeder andere, er begehrt einen Gegenstand und eignet ihn sich an. Dabei geht er häufig weniger stringent vor als der konventionelle Sammler, der zielstrebig sein Werk komplettiert. Vor allem aber sammelt der Künstler im Gegensatz zum konventionellen Sammler nicht das wertvolle Einzelstück, sondern er sammelt das Banale, das erst durch sein Sammeln besonders wird. In der Nobilitierung des Wertlosen, Weggeworfenen, Übersehenen entdeckten Künstler seit den sechziger Jahren bis heute eine äußerst erfolgreiche Ausdrucksform.

Einen Eindruck von der Reichhaltigkeit künstlerischer Strategien im Umgang mit Gesammeltem verschaffen beispielhaft folgende Arbeiten: Der französische Künstler Arman sammelte für sein Werk Accumulation Téléfones (1962) ausgediente Telefone und präsentiert sie in einem roten, an der Wand hängenden Kasten hinter einer Glasscheibe. Und wirklich bekommen die funktionslos gewordenen Geräte in dieser Häufung, in dieser Art und Weise der Zurschaustellung eine völlig neue ästhetische Struktur. Sie wirken durch ihre verschiedenen Formen und Farben wie durch den Reiz des Nostalgischen.

Diese Ästhetisierung des Alltäglichen hat in jüngerer Zeit der Künstler Carsten Bott fortgesetzt. Er legte Ende der achtziger Jahre das Archiv für Gegenwartsgeschichte als eine Sammlung zur Alltagskultur an. Bott sucht und findet seine Objekte bevorzugt an Unorten, im Müll. Auf das bloße Sammeln und Archivieren folgt in einem zweiten Schritt das Ordnen und Anordnen der Dinge, wie in seiner Installation Von jedem Eins (1993). In einer ausladenden Halle breitet sich ein Teppich aus Lockenwicklern, Einmachhilfen, Stützstrümpfen, Schallplatten oder Plastiktaschen aus, der nun ­ in einem dritten Schritt ­ den Besucher, der auf Stegen über ihn wandelt, durch sein Farbspiel, seine Zusammensetzung aus fragmentierten Wegwerfartikeln förmlich einwickelt, in seinen Bann zieht. So zusammengefügt bekommen die Gegenstände schlichtweg eine sinnliche Ausstrahlung, während sie im einzelnen betrachtet Erinnerungen wachrufen, Assoziationen an die Kindheit, die erste Schallplatte, die Lockenwickler der Mutter.

Es geht um Erinnerung, Gedächtnis, Geschichte, Vergangenheit, was noch deutlicher in den Arbeiten der französischen Künstlerin Annette Massager wird. In ihrer Album Collection sammelt sie Lebensgeschichten ­ auch ihre eigene ­, Tagebüchern, Fotoalben, Briefen und Haushaltsaufzeichnungen entnommen, die sonst im Privaten geblieben und verstaubt wären. Sie bereitet sie auf in einer Serie selbstgefertigter Bücher und gerahmter Kollektionen. Sie leistet Erinnerungsarbeit obwohl, aber das bemerkt man erst viel später, ihre „Berichte" voller Lügen stecken, frei erfunden und teilweise abstrus, provokant, die Geschichten einer Wahnsinnigen sind.

Erinnert sei abschließend an „die größte Liebesskulptur der Welt", auch sie das Ergebnis einer Sammlung, einer Briefsammlung: Love Letters. Der Initiator HA Schulte hatte im Juli 2001 alle Postempfänger dazu aufgerufen, einen Liebesbrief zu schreiben. Innerhalb von sechs Wochen gingen 50000 Briefe ein, 3500 davon wurden ausgewählt, mehrmals auf eine spezielle Folie gedruckt und in Bahnen über das Gebäude des Postfuhramtes in der Oranienburger Straße gestülpt. Der Künstler nannte es ein Werk von allen für alle, eine „demokratische Skulptur".

Die Grenzen zwischen Ansammeln, konventionellem Sammeln, künstlerischem Sammeln sind fließend. Zahllose Sammlungen eifriger Hobbysammler bildeten, waren sie erst in die rechten Hände gelangt, die Basis von Werken, die übereinstimmend als Kunst angesehen wurden. Manch künstlerische Sammlung macht den Betrachter zweifeln ob dieser Bezeichnung. Und hat die Präsentation der Ansammlung aus der Salzburger Villa nicht zweifelsohne einen künstlerischen Wert? Es liegt wohl immer in den Augen des Betrachters.

Vera Kühn

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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