Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sexuell Gestörte oder wahre Heilsversprecher

Der Sammler als geisteswissenschaftliches Forschungsobjekt

„Es sind hochaufgeschossene, hagere Figuren, und die Blicke schießen aus ihnen wie Flammenzungen." So beschreibt Walter Benjamin die Sammler. Besonders sympathisch scheinen sie ihm nicht gewesen zu sein, obwohl er sich hier sogar nur auf die Kunstsammler bezieht, die immerhin ein gewisses Renommee in unserer Gesellschaft genießen – sofern sie ihr in Sammlungen investiertes Kapital ehrenhaft erworben haben. Kunstsammler können ihre Manie zumindest damit entschuldigen, daß sie Werke anhäufen, denen auch von anderen Menschen ein Wert an sich zugesprochen wird und die sie in der Regel einer dankbaren Öffentlichkeit zur Schau stellen.

Sammler von Streichholzschachteln, Kotztüten, Bierdeckeln oder Figuren aus Überraschungseiern dagegen ernten im allgemeinen Spott oder gar Mitleid. Sie gelten als verschroben, sozial gestört, neurotisch. Daß Freud ­ von dem übrigens kolportiert wird, er habe Skarabäen, Ringe und Statuetten gesammelt ­ die von Sammelwut Heimgesuchten munter psychopathologisierte, verwundert dabei weniger, tat er das doch eigentlich mit allen Mitmenschen. Doch auch Jean Baudrillard folgt der psychoanalytischen Schule, wenn er den Sammlern gleichfalls unterstellt, sie seien sexuell regressiv, verfangen in der analen Stufe, die sich durch anhäufendes und ordnendes Verhalten, durch „aggressive Zurückhaltung" verrät. Zwar hält er das Sammeln nicht schlicht für eine sexuelle Ersatzbefriedigung, doch kommt auch er zu dem messerscharfen Schluß: „Das Sammeln einerseits und die aktive genitale Geschlechtsbeziehung anderseits schließen einander wechselseitig aus." Wie sich ausgerechnet die Einladung, der Angebeteten die Briefmarkensammlung zu zeigen, als Synonym eines Verführungsversuches durchsetzen konnte, bleibt rätselhaft.

Die Etikettierung als sexuell minderbemittelt ist nicht die einzige negative Charakterisierung, der sich ein Sammler aussetzt. Er gilt darüberhinaus als konservativ und passiv, gibt er sich doch angeblich damit zufrieden, im stillen Kämmerlein Dinge anzuhäufen und zu bewahren statt aktiv und progressiv an der Entwicklung der Gesellschaft zu partizipieren. Überfordert von der Mannigfaltigkeit der Welt flüchtet er in sein privates Reich, das ­ wenn auch nur als symbolischer Ausschnitt der Welt da draußen ­ ihm Übersichtlichkeit, Ordnung, eines Tages vielleicht sogar Vollständigkeit verspricht. Der Einwand des Sammlers, gerade die unendliche Jagd nach weiteren Exemplaren und das permanente Umsortieren und Katalogisieren der Objekte machen den Reiz der Sammlung aus, gibt ihn bloß umso mehr der Lächerlichkeit preis, bedeutet es doch nur, daß selbst dem Sammler bewußt ist, daß seine Tätigkeit gerade nicht geeignet ist, das Leiden unter der Unübersichtlichkeit und Unvollständigkeit der Welt nachhaltig zu therapieren.

Doch der Sammler wäre kein fruchtbares Objekt für Psychologen, Philosophen, Kulturwissenschaftler und Soziologen, könnte er nicht auch genauso gut zum einsamen Helden stilisiert werden, der als Einziger der rasant um sich greifenden Ökonomisierung unserer Lebenswelt etwas entgegenzusetzen weiß. Zwar geht es ihm vordergründig immer um Besitz, doch die im wahrsten Sinne des Wortes besessenen Dinge werden durch das Einreihen in die Sammlung dauerhaft dem Verwertungsprozeß entzogen. So betrachtet erscheint die Leidenschaft gerade für Gegenstände, die für andere keinen Gebrauchs- oder Tauschwert besitzen, nicht mehr lächerlich, sondern folgerichtig. Daß auch Sammler unter Umständen bereit sind, Exemplare ihres Schatzes zu veräußern, ist kein Widerspruch, tun sie das in der Regel doch nur, um noch seltenere oder wenigstens die eigens angelegte Serie vervollständigende Exemplare zu erwerben. Ihrer Rolle als wahre Antikapitalisten inmitten fanatischer Wertschöpfer werden sie dennoch gerecht.

Der derzeitige Hype postmoderner Theorien dürfte dem Ruf der Sammler ebenfalls zugutekommen: Revolutionäre Teleologien, die als Endziel allen Strebens einen paradiesischen, aber statischen Zustand auf Erden anpeilen, kommen angesichts der historischen Weltrettungsversuche immer mehr aus der Mode. Stattdessen gilt als wahrhaft progressiv und emanzipatorisch, wer sich der Immanenz, dem Diesseits, dem Prozessualen, dem Unabgeschlossenen verschreibt. Und wer begreift das besser als der Sammler, der zwar oberflächlich gesehen fanatisch der Vervollständigung seiner Sammlung entgegenarbeitet, doch jedes Mal, wenn es soweit kommen könnte, lieber die Objektwahl auf angrenzende Gebiete ausweitet, bevor er Gefahr läuft, durch Beendigung seines Lebenswerkes auch seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen? Vielleicht sind es also gerade die Sammler, die die Unvollständigkeit und unendliche Mannigfaltigkeit der Welt als das begreifen, was sie ist: ein unerschöpfliches Glücksversprechen.

Susann Sax

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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