Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Musiktheater für eine ungewisse Zukunft

Eine Begegnung mit Andreas Rochholl, dem künstlerischen Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin

Foto: Iko Freese/DRAMA

Die Zeitgenössische Oper hat kein eigenes Haus, nicht einmal ein Büro verbirgt sich hinter dieser Institution, die eigentlich keine ist. Andreas Rochholl empfängt in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg, die er ironisch sein Opernhaus nennt. Im Regal hat er CDs mit den 17 seit 1997 von der Zeitgenössischen Oper realisierten Produktionen stehen, von Hans Werner Henze und Aribert Reimann bis Morton Feldman, Salvatore Sciarrino und Hans Zender. An der Wand hängt ein Entwurf, den man als utopisch bezeichnen muß: ein „Zentrum für zeitgenössische Oper und Musik", ausgedacht von Gewers Kühn+Kühn Architekten. Obwohl sich das Team der Zeitgenössischen Oper für dieses Haus, das das erste wäre, das den Anforderungen des neuen und neuesten Musiktheaters seit 1945 gerecht würde, bereits einen Platz am Humboldthafen ausgeguckt hat, ist es wohl wahrscheinlicher, daß Berlin demnächst eine Oper schließt, als daß dieses zukunftsweisende Projekt jemals realisiert wird.

Dabei ist die Frage, ob Berlin ein viertes Opernhaus braucht, nur auf den ersten Blick absurd, beackern doch drei Häuser wenig innovativ das immer gleiche Repertoire, das aus immer weniger Stücken von Mozart bis Richard Strauss besteht. Uraufführungen sind selten; und wenn man sieht, wie schnell die neuen Stücke dann regelmäßig wieder aus dem Spielplan verschwinden, drängt sich der Verdacht auf, man entledige sich bloß einer Pflicht. Die Aufführungen der Zeitgenössischen Oper, für die immer projektbezogen ein passendes Team zusammengestellt wird ­ bislang meist im Hebbeltheater/HAU1, einmal auch in Kooperation mit der Komischen Oper ­, erfreuen sich regen Zuspruchs, auch wenn der Beckett-Holliger-Abend Nicht Ich zuletzt selbst das interessierte Publikum überforderte. Die drei großen Häuser scheinen also eine beträchtliche Lücke offenzulassen, zumal die Zeitgenössische Oper nicht mit Uraufführungen hervortritt, sondern meist Stükke nachspielt, die nach ihrer Uraufführung an einem der Staatstheater in der Versenkung verschwunden waren.

Momentan steht man wieder dort, wo man schon bei der Gründung 1997 stand: vor einer ungewissen Zukunft. Förderungsmöglichkeiten durch verschiedene Stiftungen sind mittlerweile ausgeschöpft, und von der bankrotten Stadt Berlin ist keine regelmäßige Förderung zu erwarten. Das kann Rochholl, der gerne über das subventionierte Staatstheater-System herzieht, das er als undemokratisch geißelt, aber nicht schrecken. In einem Jahr will die Zeitgenössische Oper auf dem Platz der Republik mit einem Stück über „Oper und Allmacht" auf sich aufmerksam machen.

Warum kümmern sich Berlins drei Opernhäuser nicht um zeitgenössisches Musiktheater?

Die Lücke ist nicht nicht nur in Berlin sehr groß, sie wird überall immer größer. Als Marcel Prawy (der Wiener Fernseh-Opernführer, 1911-2003, Anm. F.N.) 80 wurde, sagte er in einem Interview, er sei großgeworden in einer Musikthea- terlandschaft, in der 80 Prozent des Repertoires nicht älter war als 50 Jahre, wohingegen heute 80 Prozent der Stücke älter als 100 Jahre seien. Die Opernwelt ist eine sehr nostalgische, rückwärtsgewandte Welt, was sich bis in die Architektur hinein zeigt. Der Museumsbau und der Umgang mit bildender Kunst haben sich weiterentwickelt. Mittlerweile hat fast jede Stadt neben dem Museum für ältere Kunst auch selbstverständlich ein Museum für moderne Kunst. Nach wie vor gibt es in der Bundesrepublik ca. 80 Einrichtungen, die regelmäßig Musiktheater produzieren – in Architekturen, die vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammen. Da diese Organisationen gewerkschaftliche Bindungen haben, wagte man lange nicht, sie anzugreifen.

Im Gegensatz zur bildenden Kunst, wo ja immer auch Gegenwartskunst gesammelt wird, gibt es für Musiktheater keinen freien Markt. Man kann daraus natürlich auch wie Gérard Mortier den Schluß ziehen, die Oper ist tot und musealisiert, abgelöst vom Film und anderen Kunstformen. Andererseits ist die Diskussion um das Museum Oper so alt wie die Oper selbst. Wir haben die Zeitgenössische Oper mit dem Argument gegründet: Es gibt ein Erlebnis-Defizit, weil die bestehenden öffentlichen Häuser ein Repertoire bespielen, das meist um 1920 mit den mittleren und späten Strauss-Opern endet. Das Publikum hat deshalb kaum Vorstellung davon, was sich danach entwickelt hat. Es hat einen musealen Begriff von Oper und geht in die Oper, weil es genau weiß, was es dort erwartet. Dabei ist die Formenvielfalt im zeitgenössischen Musiktheater genauso groß wie in der bildenden Kunst. Unsere Idee war, in Deutschland ein Zentrum zu schaffen, wo das Publikum regelmäßig vergleichen kann, was es alles gibt und auf die Vielfalt des neuen Musiktheaters neugierig wird ­ sei es die europäische Tradition des Geschichten-Erzählens in Reimanns Gespenstersonate nach Strindberg, sei es Morton Feldmans komplette Dekonstruktion in Neither nach einem Gedicht von Samuel Beckett. In Berlin ist es uns gelungen, für jedes der Werke ein Publikum zu finden, und es gibt auch ein Stammpublikum, das wächst.

Sie gehen also davon aus, daß man die Opernhäuser nicht von innen heraus reformieren und modernisieren kann.

Schon Boulez forderte ja: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!" Bereits in den fünfziger Jahren war klar, daß in den Opernhäusern ein bürgerliches Kulturideal aufrechterhalten wird, das mit der Entwicklung der Musik nicht Schritt gehalten hat. Viele Komponisten hat auch der Mißbrauch der Gattung Oper im Nationalsozialismus und im Stalinismus abgeschreckt, und sie haben sich von der Oper und ihrem Allmachtskomplex abgewandt. Die Oper hat sich im bürgerlichen Kontext erhalten, ist damit aber vollkommen isoliert von allen Entwicklungen, als Hort eines romantisch geprägten Ideals des Gesamtkunstwerks. Die Oper ist ja eine höfische Kunstform und erhält uns allen etwas von dieser Atmosphäre des höfischen Absolutismus. Die Oper ist kein Demokratiemodell, sie ist ein Modell, das Allmachtsphantasien nährt. Oper fordert die Hybris heraus, alles zu können und alles zu wollen ­ und natürlich daran zu scheitern und sich lächerlich zu machen.

Gleichzeitig hat die Oper nicht mit der fortschreitenden Spezialisierung Schritt gehalten. Früher hat man alles auf Deutsch gespielt, und ein Sänger wie Rudolf Schock hat von Mozart bis Wagner und Verdi alles gesungen. Heute hingegen will man italienische und russische Opern in Originalsprache hören, Barockopern und neues Musiktheater jeweils von Spezialisten. Das kann kein Ensemble mehr abdecken, obwohl das immer noch scheinheilig behauptet wird. Die Kulturpolitiker schwärmen noch immer von einer vergangenen Zeit, die nicht mehr herstellbar ist, als ein Haus wie die Düsseldorfer Oper 80 Stücke im Repertoire hatte und das mit seinem Ensemble bestreiten konnte. Aber heute will niemand mehr den gleichen Tenor bei Händel, Wagner und Janácek hören. Trotzdem versuchen die Opernhäuser halbherzig ein Repertoire anzubieten, das sie aber nur noch mit Gästen herstellen können und das überhaupt nicht mehr finanzierbar ist.

Deshalb haben wir uns für die Spezialisierung entschieden. Wir beschränken uns auf das Repertoire seit 1945 und versuchen da Qualität anzubieten ­ immer projektbezogen, damit wir nicht zu viel Ballast mit uns herumschleppen. Wir engagieren für jede Produktion die wirklich benötigten Leute. Reimanns Gespenstersonate etwa spielt in einer Gemeinschaft von altgewordenen Menschen. In einem Stadttheater wird das Stück meist zu jung besetzt. Wir hatten Sänger mit einem Altersdurchschnitt von 75 Jahren, und die 89jährige Martha Mödl sang ihre letzte große Rolle. So konnten wir auch eine chinesische Oper mit chinesischen Musikern aufführen. Das Ergebnis ist eine finanzierbare höhere Qualität, eine größere Identität jeder Produktion. Ich halte das für ein zukunftsweisendes Modell. In einer Stadt wie Berlin könnte es ein Nebeneinander mit den großen Häusern geben.

Wie sieht die Struktur der Zeitgenössischen Oper aus?

Wir sind ein privates Musiktheater-Unternehmen, ein gemeinnütziger Verein ­ eine kleine Struktur, die es ermöglicht, flexibel zu arbeiten. Alle Beteiligten werden nur produktionsweise beschäftigt. Es gibt nur einen kleinen Kern von drei, vier Menschen, die sich um die laufenden Geschäfte kümmern, und für jede Produktion ein Ensemble zusammenstellen. Wir hatten in den letzten Jahren eine Basisförderung des Landes Berlin und haben projektweise Partner gesucht, die bis zu zwei Drittel der Kosten übernehmen mußten ­ ein mühsamer Prozeß, weil für jede einzelne Produktion erst mal das Geld gefunden werden muß. Aber das geht ja jedem Architekten so, der für jedes Bauwerk eine Konstellation von Interessen braucht. Eine Absicherung für die Ewigkeit ist nie Theateralltag gewesen. Das öffentlich subventionierte Theatersystem ist eine Erfindung der Nachkriegszeit. Kein Kunstprozeß ist auf Langfristigkeit angelegt. Alle künstlerischen Entwicklungen waren zeitlich begrenzt und wurden von den nächsten Entwicklungen abgelöst. Die Berliner Theater der zwanziger Jahre haben sich alle vier, fünf Jahre komplett erneuert, bis in die Bausubstanz hinein. Das Metropol-Theater wurde vier Mal umgebaut in diesen Jahren. Niemand wäre auf die Idee gekommen, eine Theaterstruktur zu schaffen, die 20 oder 50 Jahre halten soll. Die Berliner Opernstiftung ist dagegen ein unlebendiges, museales Projekt. Bei Museumsneubauten setzt man auf multifunktionale Räume, die noch lange Spielräume bieten für Dinge, die wir uns noch nicht denken können. Die Berliner Opernhäuser hingegen bauen darauf zu wissen, was dort in Zukunft Ereignis werden soll, und sind somit dem Leben abgewandte Räume. Bei einer lebendigen Begegnung sollte man aber nicht schon vorher wissen, wie sie abläuft.

Interview: Florian Neuner

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