Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Amerikanisierung des Ostens

Ein Sammelband über die Stadtentwicklung der neuen EU-Mitglieder

Fast meint man, in einem Buch zu lesen, das von den Veränderungen New Yorks oder Chicagos in den sechziger Jahren erzählt. Da ist die Rede von gigantischen Shopping Malls am Rande der Stadt, von einer Kommerzialisierung der Innenstädte auf Kosten vorheriger Wohnnutzung, von einer Zersiedlung durch den Neubau zahlloser Vorstadtsiedlungen, von einer sprunghaften Zunahme des Individualverkehrs.

Beschrieben wird in diesem Buch jedoch die Raumplanung und Stadtentwicklung in den Staaten der EU-Osterweiterung, und zwar u.a. in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, in Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn und Slowenien. Alle neuen Mitgliedsstaaten haben im Vorfeld des Beitritts einen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel durchlaufen, der meist radikale Veränderungen im Städtebau und der Regionalentwicklung mit sich brachte. Diese bisherigen Entwicklungsprozesse nachzuzeichnen sowie das aktuelle Planungs- und Baugeschehen in den Metropolenräumen aufzuzeigen, ist Ziel des Buches.

Die Autoren der Beiträge stammen aus dem jeweiligen Land, über das sie schreiben. Die Berichte reflektieren somit eine Innensicht der Zustände. Die meisten sind Lehrende an Instituten oder Universitäten, so daß einige Texte recht theorielastig sind. Nichtsdestotrotz erfährt man eine Menge über städtebauliche Fehlentwicklungen z.B. in Warschau, über ungelöste Probleme in den Roma-Siedlungen der Slowakei, über Neoliberalismus in seiner Reinform auf dem Tallinner Wohnungsmarkt, aber auch über Erfolge wie im Raum Bratislava-Wien.

Das Beispiel Warschau beschreibt die Gefahr eines Planungsvakuums zugunsten eines freien Marktes. Die Stadt – mit 1,7 Millionen Einwohnern die größte Polens – erlebte nach der politischen Wende von 1989/90 einen Wirtschaftsboom, vor allem ausgelöst durch ausländische Direktinvestitionen. Sie wurde Standort für Banken, Versicherungen sowie Industrieunternehmen. Deren Immobilienbedarf veranlaßte einen enormen Neubau von Büroflächen. Die Stadtstruktur paßte sich baulich völlig planlos den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten an. Gebaut wurden bevorzugt Hochhäuser in Frischluftschneisen, auf Grünflächen oder in dezentralen Bereichen der Stadt. Dort wo es sinnvoll gewesen wäre zu verdichten, nämlich im sozialistischen Stadtzentrum mit seinen typischen riesigen Freiflächen zwischen Protz- und Propagandabauten, passierte nichts. Auf die Bürobauten folgten Einkaufszentren an den Ausfallstraßen und Einfamilienhäuser außerhalb des Zentrums, die beide den ohnehin vernachlässigten öffentlichen Raum mit zusätzlichen Verkehrsströmen belasten. Das Wort „Planung" hatte in Polen nach Jahrzehnten der „Planwirtschaft" einen schlechten Klang. Raumplanung stand dem streng neoliberalen Kurs entgegen, und so gab es keinerlei finanzielle Ausstattung für Bauleitpläne oder Stadtentwicklungsprogramme, überließ man die Stadtentwicklung den Gesetzen des Marktes. Nur langsam rücken die Gefahren für die Entwicklung des Warschauer Zentrums und des öffentlichen Raumes ins Bewußtsein der Verantwortlichen und werden allmählich öffentlich diskutiert.

Die Stadtentwicklung Tallinns krankt weniger unter Investorendruck als vielmehr unter dem totalen Rückzug des Staates aus der Wohnungsversorgung sowie einer Zunahme des privaten Wohnungsmarktes. Die Richtschnur der estnischen Wirtschaftspolitik war seit der Wende die Schaffung optimaler Rahmenbedingungen für privates Unternehmertum bei gleichzeitiger Beschränkung staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen. Nur konsequent, daß diese liberale Einstellung auch auf die Sozialpolitik – Eigenverantwortung statt staatliche Unterstützung – und die Wohnungsbaupolitik übertragen wurde. Bis 2000 waren 94 Prozent aller Wohnungen in Tallinn privatisiert. Häufig konnten die neuen Wohnungseigentümer gar nicht abschätzen, welche finanziellen Verpflichtungen auf sie zukamen. Zunächst konnten sie ihre Mietwohnungen günstig erwerben, ließen sich von dem allgemeinen Trend zu kaufen mitreißen und sehen sich nun lange aufgeschobenen Erhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen gegenüber, die Einkommensschwache zur Aufgabe der Eigentumswohnung zwingt. In diesem Moment aber stehen sie einem völlig vernachlässigten Mietwohnungsmarkt gegenüber. Nur drei Prozent des Tallinner Wohnungsbestandes sind überhaupt noch Mietwohnungen, öffentliche Mietwohnungen wurden zwischen 1992 und 2000 überhaupt keine errichtet. Und so setzt in Tallinn langsam aber sicher und besonders konsequent eine sozialräumliche Differenzierung ein. Der Wohlstand konzentriert sich im Stadtzentrum, in den Gartenvorstädten und Einfamilienhaussiedlungen an der zersiedelten Peripherie; für die Einkommensschwachen bleibt der Rest – zu kleine Wohnungen in unsanierten Häusern und ärmeren Vierteln.

Zusammengenommen beschreiben die Städte Warschau und Tallinn Entwicklungslinien, wie sie für alle postsozialistischen (Groß-)Städte gelten, so heterogen sie hinsichtlich Größe, Bevölkerungszahl und städtebaulicher Voraussetzungen auch sein mögen. Ihre Metropolenentwicklung ist gleichermaßen durch Kommerzialisierung und Gentrifizierung der historischen Stadtkerne, Reurbanisierung einiger bevorzugter innerstädtischer Gebiete sowie Suburbanisierung der Wohnbevölkerung und der Arbeitsstätten am Stadtrand gekennzeichnet. Sie sind auf dem besten Weg, zu sogenannten „Doughnut-Städten" zu werden, mit einem Entwicklungsring in der vorstädtischen Peripherie, außer dem nur noch ein Rest historisches Zentrum mit Tourismus und etwas Kommerz übrigbleibt. Dabei haben sie im „alten" vereinigten Europa wie in Amerika eigentlich genügend gebaute Beispiele vor Augen, die abschrecken sollten.

Vera Kühn

* Uwe Altrock, Simon Güntner, Sandra Huning, Deike Peters (Hg.): Zwischen Anpassung und Neuerfindung. Raumplanung und Stadtentwicklung in den Staaten der EU-Osterweiterung. Verlag Uwe Altrock, Berlin 2005. 16 Euro

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