Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Fürsten der Landstraße

Zwischen Achtung und Verfolgung: Kleine Geschichte der Bettelei

Als kurze Zeit nach der Öffnung der innereuropäischen Grenzen die Bettelei in den westeuropäischen Städten wieder stark zunahm, verfielen in einigen Kommunen die örtlichen Honoratioren auf die nicht ganz neue Idee, Bettelsatzungen einzuführen, um dem Treiben der Bettler in ihren Einkaufszonen Einhalt zu gebieten. In der Bundesrepublik hatte man nämlich 1974 in einem Anflug von Barmherzigkeit und Überschätzung der Leistungsfähigkeit des Sozialstaats den bereits seit der Gründung des Deutschen Reiches gültigen Straftatbestand der Bettelei ersatzlos gestrichen. Daß es 1995 neben Saarbrücken ausgerechnet das erzkatholische Fulda war, welches zuerst den Kampf gegen professionelle Schnorrer wiedereröffnete, indem es Betteln „durch gezieltes körpernahes Ansprechen" ebenso wie den öffentlichen Genuß von Alkohol zur „nicht erlaubnisfähigen Sondernutzung" erklärte, mag allerdings etwas verwundern. In der Vergangenheit war es schließlich gerade nicht der Katholizismus, der sich als Hauptfeind der Bettler hervortat.

Im frühen Mittelalter, als hierzulande im Gefolge des Zerfalls der Sippenverbände die ersten Bettler ihrem Tagewerk nachgingen, hatten diese im gesellschaftlichen Gesamtgefüge durchaus ihren festen Platz. Genauso, wie es einen König von Gottes Gnaden gab, gab es den Bettler von Gottes Gnaden. Letzterer hatte seinen Platz zwar nicht bei Hofe, wohl aber in der Nähe von Kirchen und auf öffentlichen Plätzen, wo er zu Recht auf milde Gaben hoffte, denn das Geben von Almosen war neben dem Beten und dem Fasten eine Möglichkeit der Buße für begangene Sünden ­ und wer mochte schon sündenfrei leben? Vagabunden, die ohne zu arbeiten von einem Ort zum anderen zogen, konnten sich sogar auf den Heiland selbst berufen. Zog nicht auch Jesus einst mit seinen Jüngern zechend durch die Lande und hielt seine Anhänger von der Arbeit ab? Mit einem gewissen Stolz nannten sich Bettler damals „Fürsten der Landstraße", schließlich mußten sie ­ genau wie der Adel ­ nicht schuften.

Insbesondere religiös motiviertes Betteln war im Mittelalter überdies ausgesprochen lukrativ. So häuften viele der zahlreichen christlichen Bettelorden auf diese Weise einen beachtlichen Reichtum an. Deshalb, und weil wegen stark angestiegener Brotpreise viele verarmten, trieben sich im Spätmittelalter immer mehr Bettler auf den Landstraßen herum. Zunehmend wurden die Schnorrer nun in zeitgenössischen Schriften als Plage wahrgenommen. Man warf ihnen vor, sie betrögen, indem sie Krankheiten vortäuschten oder sich zu Unrecht als Geistliche ausgäben, die nach Rom oder einen anderen heiligen Ort pilgerten. Völlig haltlos waren diese Beschuldigungen sicher nicht, ließ sich so doch der Ertrag steigern. Zunehmend erließen die Städte nun Bettelordnungen, in denen die Bettler in einheimische und fremde sowie arbeitsfähige und arbeitsunfähige eingeteilt wurden. Üblicherweise erhielten arbeitsunfähige einheimische Bettler ein Bettelabzeichen, also eine Erlaubnis, ihrem Broterwerb nachzugehen, während man allen übrigen das Betteln verbot. Die Bettelordnungen erwiesen sich aber als Schuß in den Ofen, weil sie keine Strafandrohnungen vorsahen und weil das Geben von Almosen immer noch den Weg ins Paradies bahnte.

Mit dem Aufstieg der bürgerlichen Handwerker und Kaufleute, die sich über Arbeit definierten und sich durch eine asketische, sparsame Lebensführung vom verschwendungssüchtigen Adel abgrenzten, brachen für Bettler und Landstreicher härtere Zeiten an. Insbesondere der aufkommende Protestantismus stellte den Kampf gegen die Bettelei und die Erziehung der Armen zur Arbeit und wider das Laster in den Mittelpunkt seines Kampfes um eine gottgefällige Welt. Der Haß auf die überall faul herumlungernden Schnorrer muß immens gewesen sein. Es wurden auch immer mehr, und bisweilen begnügten sie sich nicht damit, um Almosen zu bitten, sondern untermauerten ihr Ansinnen, indem sie drohten, Feuer zu legen oder sie unbarmherzige Geister mit einem Fluch belegten. Manch einer nahm auch ohne zu fragen, und nicht selten formierte sich ein größerer Mob und stellte plündernd die öffentliche Ordnung in Frage.

Das Betteln wurde also in der frühen Neuzeit ganz verboten, dafür aber eine kommunale Unterstützungspflicht für ortsansässige, arbeitsunfähige Arme eingeführt. Die Stütze war allerdings meist an ein gebührliches Betragen gebunden, insbesondere der Besuch von Wirtshäusern war den Armen untersagt. Bettler konnten nun gebrandmarkt, hingerichtet oder zu Zwangsarbeit verurteilt und in Arbeitshäuser eingewiesen werden – die ersten wurden in Deutschland Anfang des 17. Jahrhunderts in den Hansestädten Bremen und Lübeck eröffnet. Trotzdem waren weiterhin Zigtausende auf den deutschen Landstraßen unterwegs. Laut Schätzungen für das 18. Jahrhundert lag der Bevölkerungsanteil von Vagabunden zwischen zwei und zehn Prozent.

Wegen der drohenden harschen Strafen waren die umherziehenden Bettlerhorden auf allerlei gegenseitige Hilfe angewiesen – sei es, um sicheren Unterschlupf zu finden oder um Informationen über irgendwo schlummernde Reichtümer zu erlangen. Dafür brachten sie bestimmte Zeichen – sogenannte Zinken – an Häusern an und bedienten sich überdies einer Geheimsprache, die nur die Menschen der Landstraße verstanden. Das waren neben Bettlern auch Handwerker oder Räuberbanden, wobei die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen fließend waren. Betteln und Umherziehen war schließlich sowieso illegal.

Der Frühkommunist Wilhelm Weitling suchte, im Gegensatz zu Karl Marx und Friedrich Engels, die Nähe zu diesem Lumpenproletariat, das sich immerhin gelegentlich zusammenrottete und sich auch organisiert fremden Eigentums bemächtigte, und nicht zum arbeitsamen Bürgertum, das mit den abgestürzten Handwerkern auch im Proletariat sehr präsent war. Weitling setzte auf eine Verallgemeinerung des Diebstahls, den er für „Vorpostengefechte eines allgemeinen Kriegs gegen das Eigentum" hielt, welcher eine Bedingung für die kommunistische Gesellschaft sei.

Weitling konnte sich mit seiner Diebstahltheorie bekanntlich nicht durchsetzen. Die Arbeiterbewegung hat ganz im Gegenteil ihren Teil zur Verherrlichung der Arbeit beigetragen und von sich aus keinerlei Anstrengungen unternommen, nach der Revolution von 1918 den Bettlern das Leben etwas zu erleichtern. Weiterhin in Kraft blieben die Regelungen, die noch aus dem preußischen Strafgesetzbuch stammten und seit 1871 für ganz Deutschland galten, wonach Bettler, Landstreicher und Arbeitsscheue bis zu drei Monate eingesperrt und dabei zur Arbeit erzogen werden sollten. Wer rückfällig wurde, dem drohten gar bis zu zwei Jahre Arbeitshaus. Diese von den Nazis noch verschärften Gesetze blieben in der Bundesrepublik bis 1969 in Kraft. 1974, als es kaum noch Bettler gab, wurde das Betteln legalisiert.

Dierek Skorupinski

 
 
 
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