Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

leserbriefe

zum Artikel „Jagd frei auf Sprühterroristen" im scheinschlag 4/05

Die sich überall im Stadtbild breitmachenden Werbetafeln gefallen mir auch nicht. Die Sprayer hätten meinen Respekt, wenn sie sich hierauf austoben würden, dann könnte man auch noch eine gesellschaftliche Botschaft unterstellen. Simples Geschmiere auf frischen Hausfassaden als nahezu revolutionäre Tat zu werten, ist ja wohl arg übertrieben, zumal dies nicht nur (nach meiner Beobachtung eher weniger) in „schickmodernisierten Wohnvierteln" stattfindet.

Das ärgert dann tatsächlich zunehmend den ganz normalen Anwohner, der hat Graffiti wirklich satt (auch wenn er sich nach diesem Artikel als reaktionäres Arschloch eigentlich dafür schämen müßte). Zum Glück haben nicht alle Berliner das Bedürfnis, sich ungebremst Flächen im öffentlichen Raum anzueignen und „den eigenen Namen zu verbreiten". Kaufkraft und Investition brauchen unbestritten ein gewisses Maß an Ordnung, was daran per se schlecht sein soll, bleibt auch nach der Lektüre dieses Artikels verborgen (Kapitalismuskritik einfachster Machart in Ihrer sich so anspruchsvoll gebenden Zeitung?).

Der Begriff „gebombter Züge" mag ja durchaus szenetypisch sein, wird er von Ihnen derart unkritisch übernommen, bekomme ich dabei echt Magenschmerzen.

Auch in Prenzlauer Berg gibt es noch ganz durchschnittlich berufstätige Menschen, weder Spießer noch erzreaktionäre Kapitalisten, die sich wünschen, ihre Steuergelder könnten sinnvoller verwandt werden als für die Beseitigung dieser „Kunstobjekte".

Karla Hübner

Als ich den Artikel las, war ich einigermaßen überrascht. Schon seit langem wollte ich mich mit einem der Graffiti-Sprüher unterhalten, obwohl ich nicht weiß, ob Herr Höpner „sprüht".

Meine Meinung hierzu ist folgende: Gesetzt den Fall, ich träfe Sie und fände Ihren schönen neuen Eastpak- (oder auch anderen) Rucksack irgendwie langweilig, besprühte ihn sofort in einer mir gemäßen Farbe und meinem Geschmack entsprechendem Muster, so würden Sie mir wahrscheinlich ganz schön die Meinung sagen.

Die Realität der Kosten sieht ja auch so aus: Anschleifen (bei U- bzw. S-Bahnzügen), neue Bemalung. Das Schleifmittel kostet Geld, die Farbe kostet Geld, Arbeitszeit kostet Geld. Da Sie auch Hubschrauber für Einsätze erwähnten: Wir bräuchten keine Hubschrauber für diese Einsätze, wenn nicht gesprüht würde.

Nun könnten Sie sagen, warum lassen die Leute das nicht so schön bunt? Weil es eben nicht unser Geschmack ist (siehe Ihr Rucksack). Fazit: Sie beschädigen fremdes Eigentum, denn so würden Sie es auch nennen, wenn ich Ihren Rucksack besprühte.

Alles, was Sie in mehreren Spalten beschrieben haben, kann ich mit diesem fremden Eigentum widerlegen, sogar den Frust der Jugendlichen. Denn was kann z.B. ein Hausbesitzer für den Frust eines Menschen, den er noch nie gesehen hat? Hat sich der Jugendliche das eigentlich mal in dem Augenblick überlegt, in dem er im Begriff ist, die Sprühdose zur Hand zu nehmen

Renate Horn

Die Ausführungen Ihres Autors Herrn Höpner kann ich zwar im allgemeinen bejahen. Doch leider hat er den Kern der Sachlage nicht genügend tief durchschaut.

In der Kontroverse um Graffitis geht es um etwas Wichtigeres und Bedeutsameres als um „gepflegtes Erscheinen" der städtischen Mauerflächen. Es geht (sogar im Falle der äußerst sinnlosen, infantilen Kritzeleien) um die Frage, wer eigentlich unseren öffentlichen Raum kontrolliert und besitzt, und damit also um die demokratische Freiheit der Meinungsäußerung und ihre Beschneidung und Aushöhlung seitens der kapitalistischen Obrigkeit. Dies ist ein reiner Konflikt zwischen den von der Staatsmacht gehüteten und von den Vermögenden ausgeübten Eigentumsrechten und den demokratischen Menschenrechten der restlichen, absoluten Mehrheit der Bevölkerung.

Diese scheinbar absurde Behauptung erweist sich als bittere Wahrheit für jene, die erkennen, daß die heutige Welt eine Welt der allumfassenden und ununterbrochenen Manipulation der Menschen durch die Massenmedien und Werbung ist, die jegliche spontane unkontrollierte Meinungsäußerung totsicher ausfiltern und ihre Chancen auf Verbreitung im Keime ersticken. Wir leben in einem geistigen Gefängnis, dessen Mauern aus Werbeplakaten und Bildschirmen bestehen, das Kreativität und Spontaneität jedes Einzelnen in lebenslanger Einzelhaft hält und die Menschenseelen mit einer passiven, spießigen Geldverdiener- und Konsumentenmentalität verpestet, deren grundlegende banale kapitalistische Mythen das Monopol auf ungehinderte, steuerbegünstigte Verbreitung genießen; alle Alternativen hingegen werden aus dem öffentlichen Raum – dem Schauplatz der Demokratie – wirksam verjagt. So wird „Dir Deine Meinung" eingetrichtert.

Man muß feststellen – im Gegensatz zu der einfältigen Ansicht des Marxismus, daß ausschließlich das „Sein" das menschliche Bewußtsein bestimmt – daß das Bewußtsein in der dialektischen Auseinandersetzung mit der Realität menschliche Existenzen und Schicksale gestaltet. Also: Die „Ideen", „Mythen", „Meinungen" usw. gestalten durch ihren Einfluß auf das Bewußtsein der Menschen die „Realität" und nicht umgekehrt. Sie sind eben die einzig wahre „Realität"! Und solange Mythen (z.B. von „Law & Order", „Freier Marktwirtschaft" usw.) unwidersprochen den öffentlichen Raum dominieren, genießen sie den Status der absoluten Wahrheit und werden im Alltagsgeschehen zu einer alternativlosen Wirklichkeit. Wer die öffentlichen Flächen (also nicht nur Wände, sondern auch die Massenmedien) kontrolliert, kontrolliert auch die Verbreitung der Mythen, die den Inhalt der massenhypnoseartigen „Alltagsnormalität" bilden.

Wenn man um sich schaut, stellt man fest, daß in der heutigen scheindemokratischen geistig gleichgeschalteten und kulturell verödeten Massengesellschaft allein die Graffiti als bizarre Volkskunst und als halberdrosselte spontane Graswurzelkreativität betrachtet werden können. Es liegt also auf der Hand, daß jeder freiheitsliebende Bürger – unabhängig von seinen ästhetischen Prinzipien – sich auf die Seite der gejagten Sprüher stellen sollte – um das eigene Recht auf unabhängige, nichtkäufliche und nicht manipulierte Meinungsäußerung zu verteidigen.

Alexej Brykowski

 
 
 
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