Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Der Chauffeur von Herrhausen

Elektrobriefe über den Martin Schmitz Verlag

Absender: gruneberg@wesp.com

Empfänger: Kjelt-Loppen <mail@kjeltloppen.org>

Datum: 21.04.2005, 15:10

Größe: 10.9kB

(A)19.04.2005, 16:16

(Tristan Tzara befahl, oben links nach dem Alphabet und mit Uhrzeit zu konnotieren)

Lieber Kjelt,

ich schreibe Dir diese Zeilen, um Dir im Nachhinein doch auch einmal recht zu geben, was Deine Relativierungen betreffend das Bürgertum, die Richard Nixon Stiftung und ähnliche Institutionen angeht. Drauf gekommen bin ich gestern, als ich zwecks meiner journalistischen Recherchen zu diesem Verlags-Special der Einladung von Martin Schmitz folgend, diesen in seinem Verlagsgebäude in Tiergarten traf. Du kennst Martin Schmitz doch bestimmt noch aus Deiner Zeit in Kopenhagen, ja?! Er kuratierte dort u.a. das Filmprogramm zur documenta 8 und führte ebenda seine bekannte Galerie, eine ehemalige Trinkhalle, bis 1997. Danach wurde die Galerie mit einer Performance, bei der 100 Kästen Carlsberg mit vielen illustren Gästen vertrunken wurden, parallel zur documenta 9 wieder in eine Trinkhalle zurücktransformiert. Alles live gesendet im Freistaatradio Christiania-FM. Parallel zur Galerie begann er mit seinem Verlag, zu dessen wichtigsten Autoren/Künstlern sicherlich sein erster und treuester Weggefährte Wolfgang Müller gehört. Ihr erstes Buch war also BAT. Das bekannsteste Werk Müllers ist sicherlich Blue Tit, das Buch über die isländische Blaumeise und andere Dinge; es zeigt u.a., wie ein Mikrokosmos zum Exotarium wird. Ganz Island kennt wohl das Buch und das Phänomen. Martin erwähnt in diesem Zusammenhang z.B. die Leder-Szene in Reykjavik. Einmal war ja auch das Schwule Museum Berlin in seiner Galerie zu Gast. Seine neuesten Veröffentlichungen sind ein LuciusBurckhardt-Buch, Wer plant die Planung?, ein Hörbuch von Françoise Cactus, Autobigophonie (dies mußte ich gestern beim Aufspülen leider abbrechen, weil Kling-Klong-Geräusche nicht gut mit Kling-Klong-Geräuschen harmonieren ... scheint aber sonst sehr witzisch ..., bestimmt etwas für Stereo-Total-Fans, diese unverklemmten Sonnenkinder).

(B)19.04.2005, 16:44

Kjelt,

da ging's z.B. um Haß auf de Gaulle, überhaupt um Haß. Man kann sich Françoise Cactus nicht nur von der Oberfläche her annähern. Die ist ja pures Inferno von Innen. Pures Menschsein ist pures Inferno, ja klar: Gefoltert im Mädcheninternat, na also ­ bitte! Leider war Martin Schmitz damals in Kopenhagen nie in unserem Club HÜSKER. Irgendwie wollte da kein Austausch stattfinden. Klar, wir haben uns ja auch einen Dreck um die Kunst-Prominenz geschert, hatten es oft schwer mit der Brut; denk nur an unsere Party im HÜSKER, Motto und großes Transparent: „Tötet Bjørn Brånenkjol". Der hatte Dich damals in der Prüfung einfach über die Klinge springen lassen und Du mußtest nach Visby gehen. Eines der schönsten Bücher, die mir Martin zeigte, war Das System Klaus Beyer von Frank Behnke. Darin wird auf überaus sittliche Weise vorgeführt, bei was für Anlässen und Gelegenheiten man innerhalb eines Freundeskreises, einer Szene sich auch mal gegenseitig interviewen, unterstützen sollte. Ich zitiere sogar eine Stelle vom bürgerlichen Schlingensief daraus. Also Schlingensief fragte zuvor Klaus Beyer, welche Vorbilder er habe. KB fällt dann z.B. Jaques Tati ein. Schlingensief findet durchaus Parallelen zwischen KB und JT. Er erinnert sich an eine Volksbühnen-Inszenierung, zusammen mit KB: „Als wir in der Volksbühne für die Herrhausen-Stiftung geprobt haben, hast du den Chauffeur von Herrhausen gespielt. Du hast auf der Bühne gesessen und erzählt. Wie in einem Auto, aber es war keines da. Das bekam eine ganz merkwürdige Ebene. Ich dachte, wie wird das sein, wenn die Leute von der Deutschen Bank und der Herrhausen-Stiftung da sitzen. Die wägen genau ab, ob das finanziert wird, ob das einen Sinn und eine Funktion hat, und plötzlich erklärt ihnen jemand, fast aus sich heraus, die Welt! Wie reagieren die? Da habe ich sehr gelacht."

(C)19.042005, 17:25

Hallo Kjelt,

was für ein wichtiger Verlag! Allein sich so umfassend mit den einzelnen Künstlern zu beschäftigen, ihnen so viel ­ fast totale ­ Freiheit beim Gestalten der Bücher einzuräumen! Dazu sind die Bücher noch wunderschön. Und es gibt auch erschwingliche Taschenausgaben. Einige sind wirklich sperrig. Zum Beispiel das Buch Kino/Cinema von Die Tödliche Doris. Das ist auch ein Projekt mit Wolfgang Müller. Sieh doch gleich mal auf die Webseite. Ja, das Kleinkind mit der Sid-Vicious-Frisur und dem Hakenkreuz-Shirt stammt aus dem DTD-Film Das Leben des Sid Vicious, ganz kurz nach dem Tod von Vicious ('81), nach einer Idee von Max Müller (von der Band Mutter) gedreht. Einer von vielen Klassikern im Verlagsprogramm. Ich hätte die Filme lieber gesehen als gelesen. So Bücher, die Filme katalogisieren, finde ich irgendwie gemein. Aber Werkverzeichnisse kicken den einen oder anderen Museumsdirektor wohl am geilsten. Das ist im Grunde auch schon das einzige, was ich Martin Schmitz und seiner überschaubaren Künstlerbande vorwerfen mag. Daß sie ihre Werke bis in die Haarspitzen hinein auflisten, beschreiben und für's Museum fit machen. Und daß sie dabei manchmal rumnerven mit übertrieben koketten Abteilungen von Presse-Berichterstattung über die Künstler und ihren Aktionen. An wenigen Stellen macht das total Sinn, wie beim alternativ-gestickten documenta 9-Katalog-Kissen und dem Begleitbuch dazu (Annemarie Burckhardt). Da wird der Presserummel und der Skandal selbst zum Buchfüller; da ist das schön. Punktuell also ein Hauch zu viel Doppelreflexion. Aber ich hab ja nur Bruchteile gelesen. Die Autorenliste des Verlagsprogramms nennt immer wieder: Wolfgang Müller, Tabea Blumenschein, Käthe Kruse, zusammen (mit Nikolaus Utermöhlen u.a.) als: Die Tödliche Doris, Frank Behnke/Klaus Beyer, Heinz Emigholz. Daneben noch: Marc Brandenburg, Andreas Brandolini, Elfi Mikesch, Rosa von Praunheim, Klaus Heid, L. Burckhardt, F. Cactus und wenige andere.

(D)20.04.2005, 05:07

Heil Kjelt,

hab noch ein Tuborg aufgemacht ­ auf den Führer! Was für eine Weltsekunde, was für ein Untergang ... Martin Schmitz ist nicht zufrieden mit der Herausgabe von immer mehr Büchern seiner Getreuen, zusätzlich geht er unentwegt auf Tour mit dem ganzen Material ­ jetzt so mit Laptop und Beamer geht das schön einfach. Da werden dann auch die Filme gezeigt. Sein Steckenpferd ist und bleibt der Dilettantismus. Über die Weltsekunden des Dilettantismus möchte er gern noch ein Standardwerk schreiben, hat darüber schon so manchen Vortrag gehalten, die Organisation einer internationalen Tagung dazu gemacht. Das nenne ich professionelle Dilettantismusforschung! Ich versuchte, ihn in ein Gespräch über Anti-Dada-Clubs zu verwickeln. Das mißlang, weil ich auf die Frage, meinst du die finnischen Versager, nicht nur nein sagte, sondern dazu den Namen des Clubs einfach nicht präsent hatte ... irgendwas mit Sibirien, stammelte ich. Ziehst Du was aus dem Hut, kontert er blitzeschnell und blitzgescheit. Der Mann ist ein harter Brocken. Gut, gut. Ich fragte alsdann, ob er so auf dem neuesten Stand sich auch befinden könne noch, bei der vielen Frickelarbeit mit den detailgenauen Büchern. Ob er denn zum Beispiel Egotronic oder das Label Audiolith kenne. Nein, aber er spräche ja auch oft mit Leuten, und die erzählten dann schon mal hier und da etwas ­ so wie ich jetzt. Ich wollte noch den Künstler Plemo nennen, es fiel mir aber nur seine Webseite mit dem De:Bug-Verriß einer seiner Platten ein. Ebenfalls erinnerte ich den Boykott der Egotronic-Band. Von einem ihrer eigenen Stücke, welches autonome Fans zu ihrer harten Hymne zu machen trachteten ... Terrorismo. Das gefiel dem Martin Schmitz. Ich war einen Schritt weiter. Über Weisheit, die als Torheit angesehen wird, redeten wir zum Schluß unserer Begegnung noch. Heute gehe ich in eine Buchhandlung, mir auch einmal einen Vortrag von ihm anzuhören, über Lucius Burckhardt. Will sehen, ob er an die Güte Deiner Vorträge auch nur einen Fjord breit heranreichen kann. Immerhin ist er ja bekennender Telefonbar-Biertrinker. Das bedeutet, er macht die Bar auf, indem er einen Freund anruft. Darauf war ich noch nie gekommen. Eine gute Idee! Prost Kjelt, auf die kleine Hilfe unter Freunden.

Und die besten Wünsche

Jørg

(E)21.04.2005, 15:03

P.S.: Kjelt, unfaßbar – die Mysterien spielen sich tatsächlich in Buchhandlungen ab.

Jørg Gruneberg

www.martin-schmitz-verlag.de

 
 
 
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