Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Imbißbudenphilosophie in den Zeiten von Hartz IV

Robert Thalheim hat einen Berlin-Film jenseits der Klischees gedreht

Am schönsten ist es im Kino, wenn einem ganz warm wird, und zwar nicht, weil zu stark geheizt ist, sondern weil das Geschehen auf der Leinwand den Zuschauer ganz wörtlich mitnimmt in ein Leben, ein Schicksal, auch wenn das kitschig klingt. Man geht aus dem Saal und möchte allen erzählen, wie toll der Film war, und daß jeder sich ihn ansehen muß. Meistens sind das kleine, alltägliche Geschichten, die einen so berühren. Eine dieser Kinogeschichten heißt Netto – eine Vater-Sohn-Geschichte aus Prenzlauer Berg, mit einem Nachwende-Verlierer und dessen Sohn als Hauptpersonen, die miteinander und dem Leben klarkommen müssen. Könnte sehr dramatisch sein und furchtbar traurig, ist es aber nicht, sondern auch amüsant und anrührend.

Netto ist der Jahresfilm des HFF-Studenten Robert Thalheim, der damit seinen ersten Langspielfilm produziert hat, und das mit unerwartetem Erfolg. Der Film wurde schnell zum Geheimtip kleiner Festivals und lief zuletzt in der Reihe „Perspektive deutsches Kino" auf der Berlinale. „Der Auslöser, diesen Film zu machen", erzählt Thalheim, „kam von meinem Professor Rosa von Praunheim, der uns quasi gezwungen hat, nicht mehr solche typischen Studentenkurzfilme zu machen, sondern der sagte: Wenn ihr Regisseure sein wollt, dann müßt ihr drehen. Ihr dreht im Sommer mit zwei Schauspielern, die ihr toll findet, an einem Ort. Das war die Aufgabe." Der Ort war schnell, quasi vor der Haustür gefunden, die beiden Hauptdarsteller fand Thalheim in Milan Peschel als Vater und Sebastian Butz als Sohn. Das Drehbuch war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fertig.

Die Idee, eine Geschichte über einen dieser Imbißbudenphilosophen, der immer nur redet und dabei nichts auf die Reihe bekommt, zu erzählen, war schon länger da: „Es gibt eine Menge Leute in meinem Bekanntenkreis, die viel zu viel reden oder ständig versuchen, ihr Scheitern zu begründen, also das verbal in den Griff zu bekommen, was da mit ihnen passiert. Und dann nehme ich natürlich wahr, was so um mich herum passiert. Da redet man schon mal mit Leuten an der Imbißbude. So hat sich die Figur des Marcel Werner herauskristallisiert". Dieser ist Mitte dreißig und wohnt mehr schlecht als recht in einer sparsam eingerichteten Ladenwohnung in Prenzlauer Berg. Sein bisher monotones Leben wird plötzlich in neue Bahnen gelenkt, als sein Sohn Sebastian vor der Wohnungstür steht. Der ist von Zuhause ausgerückt, weil er mit dem neuen Mann seiner Mutter nicht auskommt. Also will der 15jährige es mal mit seinem richtigen Vater versuchen, was natürlich Probleme mit sich bringt, vor allem, da er in einem Alter ist, in dem man irgendein Vorbild braucht. Marcel eignet sich aber am allerwenigsten dazu, denn er ist der nicht mehr ganz so neuen Zeit nicht gewachsen und träumt von einer Karriere als Personenschützer. Beim Träumen bleibt es auch. Er kann ja noch nicht einmal eine Bewerbung schreiben. Sein Sohn ist jedoch ganz von heute und hat das in der Schule gelernt, hilft ihm dabei und berät ihn auch in Sachen Vorstellungsgespräch ­ eine sehr komische Situation, die die beiden Schauspieler sichtlich auskosten. Der Sohn scheint der eigentlich Erwachsene im Gespann zu sein, da er weiß, was heute verlangt wird. Trotzdem entwickelt sich eine ­ wenn auch verquere ­ Vater-Sohn-Beziehung. Nebenbei erlebt der Sohn auch noch die erste Liebe mit der Nachbarstochter.

Nur wenn Peter Tschernig, der Johnny Cash des Ostens, singt, ist die Welt für Marcel und Sebastian in Ordnung. „Mein bester Kumpel ist und bleibt mein Vater", tönt es aus den Boxen. Vater und Sohn hüpfen dazu fröhlich durch die Wohnung. Da ist die DV-Kamera ganz nah dran an den beiden, und man möchte mitmachen. Überhaupt ist diese Musik ganz wichtig für Marcel wie auch für den Film. Sie wurde ganz bewußt ins Drehbuch integriert. Das ging auch an Hauptdarsteller Milan Peschel nicht spurlos vorrüber: „Wir haben Peter Tschernig wirklich schätzen gelernt, er hat ja auch mitgespielt. In seiner Musik ist nichts Falsches oder Zynisches, keine Ironie. Es ist so was angenehm Unmodernes, was einen anrührt. Und letztendlich ist auch Peter Tschernig so eine Art Marcel Werner."

Für den Volksbühnenschauspieler Peschel ist Netto der erste lange Kinospielfilm, was sehr verwundert. Aber für ihn ist das nicht wichtig, eher das Produkt, mit dem er sehr zufrieden ist. Er wollte schon immer mal einen richtigen Loser spielen, und das macht er großartig. Er spielt diesen Marcel Werner als den sympathischen Losertyp von nebenan so anrührend, daß man ihm das hoffnungsvolle Ende aus vollem Herzen gönnt.

Angesichts einer Geschichte über einen Loser, der von Karriere träumt, fällt natürlich sofort das Stichwort Hartz IV. Doch daran war bei den Dreharbeiten noch gar nicht zu denken. Allerdings freut es Thalheim natürlich, daß der Film zur Debatte beiträgt. Aber eigentlich wollte er einen Film machen, der quasi vor der Haustür spielt: „Ich wohne ja schon seit einiger Zeit in Prenzlauer Berg, und man bekommt schon einiges mit, wenn man sich dafür interessiert, was auf der Straße los ist. Man findet immer etwas, worüber man erzählen kann, direkt vor der Haustür. Das ist was Regionales und das finde ich spannend, und wenn man es darüber schafft, etwas Allgemeineres zu erzählen, ist das natürlich toll. Aber erst mal erzählt man darüber, was da ist. Ich will über Menschen erzählen und darüber, was mich umgibt und natürlich auch über die Gesellschaft, in der ich lebe." Das ist ihm gelungen.

Ingrid Beerbaum

Der Spielfilm „Netto" kommt am 5. Mai in die Kinos.

 
 
 
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