Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„... un in Tierjarten roochen!"

Volkstumulte und 1. Mai-Randale

Es wird das „Recht auf die Straße" verkündet.

Die Straße dient lediglich dem Verkehr.

Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch.

Ich warne Neugierige.

Polizeipräsident Traugott von Jagow, 1910

Wenn alle Jahre wieder über die Feierlichkeiten um den Kreuzberger 1. Mai diskutiert wird, kann dies bereits im Vorfeld geschehen, weiß man doch ohnehin, was der Tag der Arbeit bringen wird. Die Berliner Zeitung sparte sich einmal gar die aktuelle Berichterstattung und druckte am 2. Mai den Leitartikel vom Vorjahr noch einmal ab. Die Kritiker der Veranstaltungen werden sich auch dieses Jahr wieder beschweren, daß die Straßenfeste und Demonstrationen lediglich ein Vorspiel zur immer gleichen und sowieso völlig unpolitischen Randale seien – da mag auf den Plakaten noch so viel von Revolution die Rede sein. Dabei geht es keineswegs allen Quenglern um eine grundsätzliche Ablehnung von Straßengewalt. Wer wollte denn auch dem Sturm auf die Bastille oder der Bostoner Teaparty ihre Relevanz im Demokratisierungs- und Emanzipationsprozeß absprechen? Doch im Gegensatz zu den heutigen Kreuzberger Festspielen gründeten die früheren Ausschreitungen angeblich nicht auf bloßer Zerstörungswut und kindischem Spaß am Räuber- und Gendarmspiel, sondern auf der existentiellen Not der unteren Bevölkerungsschichten, die ihrer Wut über verteuerte Lebensmittel, Kriegstreiberei und Ausbeutung spontan Ausdruck verliehen.

Politische Motivation oder Spaß an der Zerstörung?

Tatsächlich finden sich in der Geschichte Berlins zahlreiche Beispiele von Volkstumulten, in denen der Pöbel aus nachvollziehbaren Gründen den gewaltsamen Kampf gegen die Obrigkeit aufnahm: So verlieh die zur Unterstützung herbeieilende Bevölkerung den Streiks der Straßenarbeiter 1900 und der Omnibusfahrer 1903 einen besonderen Schwung, indem sie beherzt auf Streikbrecher losging und die Polizei gewaltsam daran hinderte, diese zu schützen, indem sie kleinere und größere Gegenstände in ihre Richtung warf. Die hungrigen Frauen, die 1915 die Schaufenster eines wuchernden Händlers zerdepperten und damit die Lichtenberger Butterkrawalle auslösten, erreichten immerhin, daß durch staatlichen Eingriff die Preise für Grundnahrungsmittel wieder fielen. Und 1953 half der von Randale begleitete Aufstand der Bauarbeiter in der DDR, nicht nur die Erhöhung der Produktionsnormen abzuwehren, sondern gleich ein ganzes Regime kurzzeitig in Frage zu stellen. Selbst der Moabiter Klostersturm, der 1869 der katholischen Kirche ihre Grenzen aufzeigte und deren Kampagne wider das moderne Laster bis auf weiteres vertagte, erscheint auch aus heutiger Sicht nachvollziehbar.

Doch bevor man vorschnell den damals randalierenden Pöbel zum revolutionären Subjekt verklärt, das aus der Not heraus mit spontanen Steinwürfen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung den Weg bahnte, sollte man sich auch andere Exzesse anschauen: So begannen die tagelangen Krawalle um den Moritzplatz 1863, weil ein Wirt wegen des unerlaubten Einbaus zweier Eisenöfen seine Kneipe hätte aufgeben sollen, während die Scharmützel mit der Polizei rund um den Alexanderplatz 1861 eskalierten, nachdem einige Maschinenbauer kurz vor der Ankunft des neugekrönten Königspaares Zuhälter und Huren attackierten, die ihrer Arbeit in den Bordellen entlang der Paradestrecke nachgehen wollten.

Die Armen waren noch nie eine Ansammlung geschundener Gutmenschen, wie die linke Propaganda gerne unterstellt. Selbst in Zeiten finsterster Feudalherrschaft kämpften sie nicht immer nur für ihr Überleben oder für höhere Ziele. Oft tobte der Volkszorn einfach deshalb, weil man den unteren Ständen ein gewohntes Vergnügen madig machen wollte: Als 1834 das Bürgertum das rituelle Abbrennen von Feuerwerkskörpern an Königs Geburtstag verbieten ließ, feierte der Mob eben anders und zertrümmerte drei Tage lang die Laternen, Bänke und Fensterscheiben entlang der Prachtboulevards. Randalieren machte wohl schon immer einfach auch Spaß, selbst wenn es um ernste Dinge ging: Im Zuge der Berichterstattung über die Lebensmittelkrawalle 1847 mokiert sich die Vossische Zeitung über die Unverfrorenheit junger Radaumacher: „Gestern stellte sich ein solcher Range unter den Bauch eines Gendarmeriepferdes und fing dasselbe mit einer Stecknadel zu stechen an."

Wem gehört die Straße?

Daß die meisten historischen und heutigen Krawalle auf den eigenen Kiez beschränkt bleiben, mag auf den ersten Blick etwas einfältig erscheinen. Wenn man schon mit Steinen gegen die Staatsgewalt vorgehen oder sich auch nur in einer Gewaltorgie berauschen will, könnte man doch wenigstens die Paläste angreifen und nicht die Laternen vor dem eigenen Haus. Ein konzertierter Angriff auf die Residenzen der Macht erfordert jedoch einiges an Organisation. Ein ordentlicher Volkstumult, der seinen Namen verdient, ist aber vor allem spontan ­ was nicht bedeutet, daß er nicht vorhersehbar sein kann. Auch früher waren Schutzmannschaften und Militär stets in erhöhter Alarmbereitschaft, wenn mit größeren Menschenmeuten zu rechnen war, sei es bei Streiks, bei Volksfesten, öffentlichen Hinrichtungen oder monarchischen Machtdemonstrationen. Das Mariannenplatzfest am 1. Mai oder ein großes Fußballspiel bilden da keine Ausnahme.

Auch wenn Ausschreitungen mitunter von tagespolitischen Entscheidungen inspiriert sind ­ Preissteigerungen, Lohnraub, Kriegseintritt oder Hartz IV ­, erschöpft sich ihre Wirkung nie darin, konkreten politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Immer geht es auch darum, sein Recht auf eine selbstbestimmte Nutzung des öffentlichen Raumes zu behaupten. Und in Bezug auf herrschaftliche Disziplinierungen und Verhaltensnormierungen läßt sich kaum behaupten, die Repression hätte in den letzten Jahrhunderten nachgelassen. Zwar sind es heutzutage nicht mehr Soldaten und Schutzleute, die mit Säbeln Ordnung, Sauberkeit und Ruhe durchzusetzen versuchen, sondern zunehmend private Wachunternehmen und Polizisten, die das Hausrecht auf teilprivatisierten Plätzen schützen, doch die verbotenen Verhaltensweisen unterscheiden sich weniger, als man aufgrund wesentlicher Verschiebungen der gesellschaftlichen Ordnung annehmen sollte: Daß ­ wie 1845 beim „Rauchertumult" ­ die Polizei einschreitet, weil 200 Arbeiter nach Feierabend rauchend und lärmend um die Häuser ziehen, erscheint jedenfalls bald schon wieder vorstellbar. Die Forderungen eines befragten Arbeiters während der Schneiderrevolution könnten vermutlich auch die heutigen Punks unterschreiben: keine Hundesteuer, keine Mietabgaben und keine neuen Maschinen „un in Tierjarten roochen".

Betrachtet man die Randale am 1. Mai vor diesem Hintergrund, kann ihr ein Erfolg kaum abgesprochen werden. Zumindest an einem Tag im Jahr legt nicht die Obrigkeit, sondern die Stammkundschaft des Kiezes selbst die Regeln fest ­ Anzeigen wegen Lärmbelästigung, Rauchen auf U-Bahnhöfen oder Erregung öffentlichen Ärgernisses dürfte an diesem Tag selbst die Polizei lächerlich finden. Zwar bittet sie vermutlich bereits einen Tag später wieder Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig und grillende Parkbesucher zur Kasse, doch der Zweifel am Disziplinierungswahn hält in der Regel länger vor ­ das staatliche Gewaltmonopol war schließlich für kurze Zeit aus den Angeln zu heben. Wer das einmal erlebt hat, weiß es zu schätzen.

Insofern ist die Kritik, die Randale sei unpolitisch, mindestens genauso albern wie die naiven Versuche, ihr das Etikett des Revolutionären aufzudrängeln. Nicht um Kapitalismus, Kommunismus oder Anarchie wird gestritten, sondern um die Macht über den öffentlichen Raum. Die Straße dient eben nicht nur dem Verkehr, sondern ist als Ort des Lebens und Arbeitens die Zielscheibe sehr verschiedener Interessen ­ ob nun die Autonomen exzessiv feiern, die Nazis durchs Brandenburger Tor marschieren oder die den US-amerikanischen Präsidenten erwartenden Staatsmänner die Stadt für sich alleine haben wollen. Daß sich nur auf der Straße die verschiedenen Bevölkerungsgruppen überhaupt begegnen, macht diesen Machtkampf um so drängender. Und daß am 1. Mai in Kreuzberg ein großer Teil der Krawalle spätabends von türkischen Jugendlichen getragen wird, sollte in diesem Zusammenhang weniger besorgniserregend als folgerichtig erscheinen ­ ist es doch auch ihr Kiez.

Wohliges Aufgehen in der Masse

Wer eine politische Grundhaltung ausschließlich als das Ergebnis einer vernünftigen, reiflichen Abwägung verschiedener Argumente ansieht, unterschätzt die identitätsstiftende Wirkung solcher Massenexzesse. Wer als Jugendlicher sein erstes Gemeinschaftserlebnis auf der Love Parade genoß, wird vermutlich bald darauf wissen, wo die angesagten Technoclubs sind und wie die dazugehörigen Drogen zu beschaffen sind. Wer das erste Mal am 1. Mai in Kreuzberg im gemeinsamen Kampf gegen die „Bullen" in der Masse aufging, den zieht es eher in Volksküchen, wo er lernt, mit bedrohten Hausprojekten zu sympathisieren und wo er vermutlich auch bald auf die marxistischen und anarchistischen Klassiker stößt. Eine ernsthafte Politisierung kann die ritualisierte Randale sicherlich nicht bewirken, wohl aber ein neues Umfeld eröffnen. Das gilt allerdings auch für rechtsradikale Demonstrationen, insbesondere dann, wenn sie trotz eines Verbotes und damit gegen einen sichtbaren äußeren Feind durchgesetzt werden können.

Der Spaßcharakter der Krawalle ist demnach kein Nebeneffekt, hervorgerufen durch vergnügungssüchtige Jugendliche, sondern ihr wichtigster Bestandteil. Und gerade der Umstand, daß am 1. Mai selten Unerwartetes passiert, sorgt dafür, daß die Jugendlichen in Kreuzberg auf die Straße strömen, nachdem sie im Jahr davor in der Zeitung gelesen haben, daß die Polizei erwartungsgemäß wieder kurzfristig die Oberhand verloren hat. Die blinde Zerstörungswut insbesondere jüngerer Demonstrationsteilnehmer mag manche in Schrecken versetzen, ist sie doch genauso Begleiterscheinung rassistischer oder faschistischer Pogrome, doch als spontaner oder eben auch vorprogrammierter Ausbruch von Unzufriedenheit ist sie aus keiner Gesellschaft wegzudenken.

Sicherlich kann man derartige Ausschreitungen als albernes Räuber- und Gendarmspiel denunzieren. Man kann aber auch beruhigt feststellen, daß dieser „spielerische Charakter" zwar erheblichen Sachschaden und kleinere Blessuren zur Folge hat, schwere Verletzungen oder gar Tote aber immer schon die Ausnahme waren ­ selbst in Zeiten, als die Schutzleute statt Tränengas und Schlagstöcken nur ihre Säbel zur Verfügung hatten.

Auch beim Kreuzberger 1. Mai können es hysterische Autonome zwar nicht lassen, von „faschistischen Bullenschweinen" zu faseln, eine tatsächlich lebensgefährliche Attacke auf die Verteidiger der staatlichen Ordnung wäre jedoch keine beabsichtigte Kriegshandlung, sondern ein klarer Tabubruch. Für linke Bewegungen mag der tiefere Sinn der Randale wohl am ehesten in ihrer Funktion als Manöver liegen, denn beim Aufmarsch von Neonazis oder dem Anrollen von Castor-Transporten sind selbst friedliebende Politaktivisten froh, daß es noch Mitstreiter gibt, die gelernt haben, sich einer gepanzerten und bewaffneten Polizeieinheit in den Weg zu stellen, ohne gleich die Flucht zu ergreifen oder in eine unkontrollierte Gewaltorgie auszubrechen.

Georg Manolesco/Dierek Skorupinski

 
 
 
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