Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Jetzt tanz den Johnny Rotten!

Lichtenradener Lichtsradikalismus und Playmobil-Punker

MAchtziger Jahre, Westberlin. Zurück in eine Zeit, als nur Schizophrene auf der Straße laut vor sich her erzählten, wo sie gerade seien und wo sie demnächst sein werden. Zurück in eine Zeit, als hippe Teens ihre Schlüssel noch mit einem ordentlichen Karabinerhaken direkt an der Bluejeans befestigten und längere Bänder nur dann am Hosenbein herunterbaumelten, wenn irgendeinem Alt-Nazi der Hosenträger gerissen war. Damals, als die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihren Bildungsauftrag noch ernst nahmen und am Sonntag das beeindruckende cineastische Œuvre einer Doris Day ausstrahlten, nachdem Werner Höfer mit sechs Alkoholikern aus zwölf Ländern wieder einmal die wöchentliche Aufarbeitung weltpolitischer Ereignisse betrieben hatte.

Foto: Rüdiger Thiede

Zu dieser Zeit lag Westberlin genau an der Schnittstelle des ziemlich kalten Krieges, den Gerhard Löwenthal und Karl-Eduard von Schnitzler führten. Ein Eiland der Freiheit im Meer des Bolschewismus und ein Riff des kapitalistischen Auslands mitten in der See des sozialistischen Weltfriedens. Eine Insel, auf der Richard von Weizsäcker noch keine gediegenen Reden zur Vergangenheitsbewältigung hielt, sondern Brigitte Mira und Günther Pfitzmann für die moralische Vervollkommnung der Inselbewohner zuständig waren. Und was uns heute Otto Schily bundesweit ist, war in Berlin damals die menschgewordene Eck-Kneipe Heinrich Lummer, der als Innensenator für Gesetz und Ordnung sorgte. Lummer ließ beherzt eine Hundertschaft von Freunden und Helfern den Mehringhof stürmen, um kaum hilfreich und gewiß nicht freundlich schwarze Blöcke und revolutionäre Zellen auszuheben, die nicht nur Häuser besetzten, sondern auch und vor allem die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdeten. Die linken Gammler schmierten ein höhnisches „Kummer, Lummer?" auf die Fahrbahn der Gneisenaustraße, und Lummer, nicht zimperlich, ließ im Gegenzug Plastik-Geschosse auf Hausbesetzer abfeuern.

Von all dem nahm ich aber nur am Rande Notiz. Mein politisches Bewußtsein war noch nicht sonderlich ausgeprägt. Denn ich beschäftigte mich zu dieser Zeit mit einigen bahnbrechenden Experimenten, die darauf abzielten, die allgemeine Kompatibilität von Lego und Playmobil nachzuweisen. Einige Jahre später, als die gröbste Arbeit auf diesem Feld getan war und merklich an Attraktivität eingebüßt hatte, wurde ich dann allerdings doch noch zum revolutionären Subjekt. Das lag wohl weniger am Berliner Schweinesystem, das inzwischen von Eberhard Diepgen (ein gewiefter Klon aus Weizsäcker und Pfitzmann) angeführt wurde. Der ausschlaggebende Grund bestand vor allem darin, daß die Frau als solche in den Fokus meines Forschungsinteresses rückte. Ich hatte in verhältnismäßig kurzer Zeit herausgefunden, daß das Verlautbaren möglichst linksradikaler Ansichten auf die Mädchen in meiner Umgebung offensichtlich anziehend wirkte. Außerdem galt es unter den anderen Jungs als „cool" und hatte auf die ältere Generation eine sogenannte „schockierende Wirkung" – zumindest dann, wenn man sein Leben im wohlgeordneten südlichsten Süden Berlins fristen mußte, also in so einschläfernden Stadtteilen wie Rudow, Buckow, Britz, Lichtenrade, Mariendorf, Marienfelde, Lankwitz oder Lichterfelde.

Das Handwerk der Provokation ging leicht von der Hand in diesen Stadtteilen, die bei Zugezogenen heutzutage oftmals in Vergessenheit geraten, weil von Mitte aus gesehen die Bergmannstraße das Südlichste ist, was sie zur Kenntnis nehmen. Eine relativ sichere Methode, gegen die Südwestberliner Bürgerlichkeit aufzubegehren, bestand darin, daß man seine äußere Erscheinung in signifikanter Weise modifizierte. Man rasierte sich die Haare an den Seiten ab, ließ oben so ein komisches Gewuschel stehen, schnitt Löcher in seine Jeans und kaufte sich Doc Martens sowie eine alte schwarze Lederjacke. Auch war es zum Zwecke der Provokation nicht schlecht, am Wochenende, wenn die restliche Bevölkerung besagter Stadtteile schon zum Autowaschen herausgeeilt war, einfach im Bett zu bleiben und seinen Rausch auszuschlafen, um dann den restlichen Tag im Bett zu verbringen und schlecht verarbeitete Broschüren aus der Reihe „Bücherei des Marxismus-Leninismus" durchzublättern, die man bei seinem letzten Aufenthalt in Ostberlin erstanden hatte, um den Zwangsumtausch zu verprassen.

Den gerade erwähnten Rausch konnte man sich in einer recht überschaubaren Reihe von Läden holen, deren geographische Lage stets eine Mischung aus Mitleid und Bewunderung auf die Gesichter derer zaubert, die Berlin erst in den späten Neunzigern kennengelernt haben. Erzählt man etwa, daß einer der persönlichen Favoriten (neben „K.O.B.", „Trash", „Blockshock", „Ecstasy", „Turbine" und sogar „Linientreu") „Rock It" hieß und am Karl-Marx-Platz lag, so erntet man nur ungläubiges Staunen darüber, daß es einst tatsächlich möglich war, in Neukölln auszugehen. Zwischen rumhüpfenden Hardcore-Rohlingen und sich verneigenden Trippel-Schrittlern in rausgeputzter New-Romantic-Maskerade (heute firmiert das wohl unter „Gothic") konnte man dort durchaus Momente juveniler Emphase erleben und sich der Illusion benebelter Freiheit hingeben. Und fügt man dann auch noch an, daß man geradezu erhebenden Konzerten beiwohnte von z.B. The Primitives im „Quartier Latin" (heute „Wintergarten"), The Jesus And The Mary Chain im „Metropol" oder The Wedding Present im „Loft" (beide Nollendorfplatz), so muß man aufpassen, daß man sich nicht der Nostalgie verdächtig macht. Hier empfiehlt es sich, schnell anzumerken, daß es heute natürlich viel mehr Konzerte und Clubs gibt und sowieso alles besser ist, weil Berlin jetzt natürlich auch die heimliche Hauptstadt europäischer Subkultur ist, während Westberlin schlicht ein Dorf war (trotz David Bowie, Iggy Pop, Christiane F. und ... äh, Harald Juhnke).

Natürlich war das aber alles kein reines Zuckerschlecken, sondern gewichtige politische Arbeit. Und ab und an mußte man auch in größerer Menge protestierend vor irgendwelchen Gefängnissen im Norden Berlins herumlungern oder sich bei eisigem Wetter mit Wasser bespritzen lassen, dem Buttersäure beigemischt war. Zudem mußte man sich auch dann und wann in der Gropiusstadt oder in Marienfelde von einer Horde Nazi-Skins verprügeln lassen – und wenn möglich, ein bißchen zurückprügeln. Und als dann die „Bullen" den Lausitzer Platz stürmten und dadurch diese eigentümliche Institution der revolutionären 1. Mai-Randale etablierten, konnte man den strategischen Rückzug in den Görlitzer Park antreten und sich die Wirkung des Tränengases nicht nur auf der Zunge zergehen lassen. Jetzt hatte man endlich die Chance, auch ein Opfer faschistischer Polizeiwillkür zu sein. Das war die glorreiche und endgültige Überwindung von Lego und Playmobil. Jetzt war man endlich dort angekommen, wo diese ganzen langhaarigen Hasch-Rebellen aus den Siebzigern schon waren. Aber: Man sah dabei bedeutend besser aus! Und das war im Westberlin der Achtziger vielleicht das einzige von Bedeutung. Manche Dinge ändern sich eben nicht.

Thomas Hoffmann

 
 
 
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