Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Zwischen Westberlin und Helmstedt

Transitreisen ins Westberliner Umland

Noch heute gibt es ein zuverlässiges Unterscheidungskriterium für Ost- und Westberliner. Während der Ostberliner, um frische Luft zu schnappen, in die Uckermark, den Oderbruch oder den Spreewald fährt, fällt dem Westberliner als Naherholungsgebiet zunächst einmal die Lüneburger Heide, die Holsteinische oder die Fränkische Schweiz ein, dort eben, wo er schon seit Menschengedenken seine Wochenenden verbrachte. Natürlich hätte man auch vor dem Fall der Mauer schon – wenn einem die immerhin reichlich vorhandenen Westberliner Wälder und Seen zu voll waren – mit einem Tagesvisum ins Brandenburger Umland fahren können, welches man sich allerdings in der Jebensstraße am Hinterausgang des Bahnhofs Zoo hätte abholen müssen. Deshalb und weil der Besuch der DDR 25 Mark Eintritt kostete, suchten nur die wenigsten Westberliner die brandenburgischen Landgasthöfe heim. Stattdessen fuhr man nach Westdeutschland und blockierte an Wochenenden von Schleswig-Holstein bis zum Bodensee die Landstraßen, besonders aber die Gegenden in der Nähe der deutsch-deutschen Grenzübergänge, wo viele sich auch dauerhaft niederließen oder Ferienhäuser erwarben.

Wer kein Geld hatte, begab sich Ende der achtziger Jahre einfach zum Grenzübergang Dreilinden, stellte sich auf die Autobahn und trampte. Dort versammelte sich zu Spitzenzeiten eine große Gemeinde von über 100 Reiselustigen, weshalb es ratsam war, ein Schild mit seinem Zielort dabeizuhaben. Wenn man nur bis kurz hinter Helmstedt wollte, hatte man meist nach einer Viertelstunde einen Lift erwischt und stand dann ein paar hundert Meter weiter auf der DDR-Seite in einer der vielen Schlangen, half, das Auto zu schieben, bis man an der Reihe war, und beantwortete die immerselben Fragen der Grenzorgane nach Waffen, Munition und Funkgeräten gelangweilt mit nein. Manchmal scherzte man auch ein wenig mit den Grenzern oder ärgerte sie, indem man Extrabreits „Wir leben im Westen, im Westen ist's am besten" oder ähnliches Liedgut im Autoradio besonders laut aufdrehte. Das führte dann zwar meist zu Verzögerungen, ihren Schrecken hatte die DDR-Grenze Ende der achtziger Jahre aber besonders für junge Transitreisende, die das alte Grenzregime aus der Zeit vor Abschluß des Transitabkommens nicht mehr kennengelernt hatten, lange verloren. Sie war nur lästig und kostete Zeit ­ manchmal mehrere Stunden.

Im deutsch-deutschen Transitabkommen von 1971 war vereinbart worden, daß man auf dem Weg von Westberlin nach Westdeutschland und umgekehrt die festgelegten Transitstrecken nicht verlassen und außerdem keine DDR-Bürger füttern, geschweige denn im Auto mitnehmen durfte. Die meisten hielten sich auch daran, weil Zuwiderhandlungen teuer waren, sofern man sich erwischen ließ. Man fuhr deshalb durch die DDR, ohne viel von ihr mitzubekommen, außer daß man nach regelmäßigen Fahrten auf der Strecke fast jeden Baum kannte und auch zu wissen meinte, hinter welchen Büschen sich die gefürchteten Radarfallen der Volkspolizei verbargen. Nur an den Tankstellen und Raststätten konnte man überhaupt in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung treten oder das Neue Deutschland erwerben. Hauptsächlich besorgte man sich dort aber billig Zigaretten sowie Schnaps und tankte preiswert ostdeutschen Sprit.


Foto: Rüdiger Thiede

Wegen dieser nur in begrenztem Umfang erlaubten Schnäppchen und weil sich nach dem „Deutschen Herbst"1977 auch die Bundesrepublik zeitweilig in einen Überwachungsstaat verwandelt hatte, waren bei vielen die westdeutschen Grenzposten in Helmstedt verhaßter als ihre ostdeutschen Kollegen im benachbarten Marienborn. Wer lange oder bunte Haare hatte und darüberhinaus auch noch im verbeulten VW-Bus, an dem in treffsicherer Vorahnung ein Aufkleber der „Bananenrepublik Deutschland" als Nationalitätenkennzeichen angebracht war, über die Grenze zuckelte, konnte sicher sein, an der letzten Hürde doch noch zu scheitern und von den westdeutschen Grenzern rechts raus gewunken zu werden. Was folgte, war eine peinlich genaue Überprüfung der Papiere und eine ebenso genaue Durchsuchnung des Fahrzeugs samt Insassen, deren Ärsche auch schon mal nach Drogen durchsucht werden konnten.

Damit führten die bundesdeutschen Grenzbeamten an der von ihrem Arbeitgeber eigentlich gar nicht als Grenze anerkannten „Demarkationslinie" eine wohl sonst schon damals längst eingeschlafene schikanöse Tradition fort, wie sie eigentlich von der Ostseite ersonnen worden war, um fühlbar zu machen, daß Westberlin nicht zur Bundesrepublik Deutschland gehörte, sondern eine „selbständige politische Einheit" war. Seit dem Transitabkommen war es den DDR-Grenzern nämlich untersagt, den Westberlin-Reisenden das Leben unnötig schwer zu machen und sie aus ihren Fahrzeugen zu zerren, um diese zu filzen, es sei denn, es lag ein begründeter Verdacht vor, daß sich zum Beispiel ein Republikflüchtling im Kofferraum verbarg. Auch die vorher zu zahlende Straßenbenutzungsgebühr kassierten sie nicht mehr von jedem einzeln, sondern pauschal aus dem Bundeshaushalt.

Um die Reisenden weiterhin nerven zu können und ihnen möglichst viel Westgeld aus den Rippen zu leiern, verlagerten die staatlichen Organe der DDR ihre Aktivitäten auf die Transitstrecke selbst. Dort versuchte die Volkspolizei möglichst alle Verstöße gegen das Transitabkommen und die Straßenverkehrsordnung, insbesondere Übertretungen der Höchstgeschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde, aufzuspüren und setzte dafür entsprechend viele Kräfte ein. Die meisten hielten sich angesichts der Übermacht strikt an die Vorgaben, um dann allerdings, besonders nachdem sie sonntags, auf dem Rückweg nach einem langen Wochenende, mal wieder seit der Abfahrt Lehnin kurz vor dem Berliner Ring im Rückstau der Grenze gestanden hatten, auf der Avus mit Vollgas nach Westberlin reinzubrettern.

Als der rot-grüne Senat es 1989 wagte, auf der Avus ebenfalls eine solche Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, war die Reaktion eines großen Teils der Westberliner entsprechend ungehalten. Angeführt von ADAC und BZ zogen kilometerlange Autokorsos unter dem Motto „100?! Ick gloob', ick spinne!" durch die Stadt. Für die Teilnehmer war mit dem Tempolimit der endgültige Beweis erbracht, daß es sich bei der dafür verantwortlichen Alternativen Liste nur um die „5. Kolonne Moskaus" handeln konnte. Eine derart rigide Geschwindigkeitsbegrenzung gab es schließlich nur in der Zone, wo die heimischen Autos sowieso nicht schneller fahren konnten.

Dirk Rudolph

 
 
 
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