Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Traumzauberbaum bis Fliegerhorst

J.w.d. ­ in Gatows Hain und Flur

„Am Berghang", „An den Berggärten", „Weiter Blick" – solche Straßennamen lassen nicht gerade auf eine Ebene schließen. Und in der Tat gilt es, von der vielbefahrenen Hauptstraße kommend, zunächst eine für hiesige Verhältnisse spürbare Anhöhe zu überwinden, bevor nach nur wenigen Gehminuten das Getöse der Stadt verebbt ist. Anhand des in dieser Gegend nicht gerade seltenen Kopfsteinpflasters kann man erkennen, wie alt diese Wege schon sind. Die alten knorrigen Bäume recken ihre Äste in den Himmel, als wollten sie einem Bild von Caspar David Friedrich Modell stehen. Am Wegesrand ein unbesetzter Hochsitz, drei Reiter streben dem nahen Waldrand zu, und über dem Feld erheben sich Nebelkrähen.

„Was denn, das soll Berlin sein?" pflegten meine Freunde und Verwandten früher zu sagen, wenn sie das erste Mal nach Berlin kamen, und mit dem Auto oder dem Zug, kurz nachdem sie in Wannsee die ersten Häuser erblickten, minutenlang durch den Grunewald fuhren. Ebenso hätten sie auch dieses Gebiet hier sicher nicht mit ihrer Vorstellung von einer Metropole in Verbindung gebracht. Hier ­ das ist die Gatower Feldflur, gelegen im Bezirk Spandau zwischen Gatower Straße und Potsdamer Chaussee, mit 350 Hektar die letzte in sich geschlossene zusammenhängende Ackerbaufläche Berlins. Ein nahezu unverbautes und nicht von Straßen zerschnittenes Areal im Südwesten der Stadt, geprägt durch Dämme und Wassergräben, Hecken und Alleen. Kopfweiden und Rispengräser weisen auf Feuchtigkeit hin. Der Blick kann schweifen bis hin zur Gatower Heide im Süden, im Osten grüßt von jenseits der Havel der Grunewaldturm herüber, stolz erhebt er sich auf dem 79 Meter hohen Karlsberg, Westberlins höchstem natürlichen Gipfel. Im Norden schließen sich die Rieselfelder von Gatow an. Die von den Alleen abgehenden Wege sind für Pferdefuhrwerke gesperrt, und die gibt es hier in der Tat. Nicht nur ein paar Reiterhöfe lassen sich in der Nähe finden, sondern auch einige der letzten verbliebenen Bauernhöfe Berlins. Im Unterstand ein Traktor, aus dem Stall machen sich Kühe bemerkbar, die Idylle scheint perfekt. Doch spätestens dann, wenn die Bäuerin mit dem Mercedes auf den Hof fährt, wird einem klar, daß auch hier die Zeit nicht stehengeblieben ist. Und wenn der Wind günstig steht, merkt man auch, daß die Großtstadt gar nicht so weit weg ist, denn dann hört man die Fanchöre von Hertha aus dem Olympiastadion bis hierher.

In der Regel aber geht eine eigentümlich ruhige Atmosphäre von dieser Landschaft aus. Wer ihren ursprünglichen Zweck nicht kennt, wird sich vielleicht über die zahlreichen regelmäßig angelegten quaderförmigen Areale wundern, die stets etwa einen halben Meter unter dem Geländeniveau liegen und durch unzählige kleine ausgeschalte Gräben verbunden sind. Hierbei handelt es sich um die ehemaligen Klärteiche und Absetzbecken, wobei das Wort „ehemalig" eigentlich nicht zutreffend ist. Denn die Berliner Wasserbetriebe führen hier noch Versuchsstudien durch, mittlerweile allerdings mit vorgeklärten Abwässern. Ursprünglich stellte jedoch die Ende des 19. Jahrhunderts von James Hobrecht entwickelte Methode der Verrieselung der ungefilterten Abwässer auf mehreren großen Flächen vor den Toren der Stadt die beste Lösung für das Abwasserproblem der wachsenden Metropole dar. Als Nebeneffekt sorgte der dabei entstehende organische Klärschlamm für reiche Ernten auf den Stadtgütern. In gewisser Weise gelang es der Stadt also, aus Scheiße Geld zu machen. Doch im Laufe der Zeit stiegen die Abwassermengen und die damit verbundene Belastung des Bodens immer weiter an. Dennoch dauerte es noch bis 1988, daß auch in Gatow die Verrieselung von Abwässern endgültig eingestellt wurde. In der Folge entstand hier eine schöne Heidelandschaft, die ebenso wie die Gatower Feldflur unter Landschaftsschutz steht. Die Wasserbecken und -gräben sind zur Heimat vieler Amphibien und Insekten geworden, im Sommer läßt sich beispielsweise die Blaue Libelle beim Liebesspiel beobachten, und die zahllosen Obstbäume am Wegesrand laden dann zur Selbstbedienung ein.

Von den Rieselfeldern durch die Gatower Heide führt entlang der Stadtgrenze die Potsdamer Chaussee, eine schnurgerade Straße, flankiert von einem der schönsten Radwege Berlins, der teilweise etliche Meter abseits der Straße durch den Wald verläuft. Zu Zeiten der Mauer, die damals wie an so vielen Stellen der Außengrenze Berlins auch hier nur aus einem Stahlgitterzaun bestand, war die Potsdamer Chaussee noch ein Geheimtip, um staufrei nach Kladow zu kommen. Wenn am Ritterfelddamm die ersten Häuser auftauchen, sieht man auf der rechten Seite ein zinnenbewehrtes Gebäude samt Torbogen aus gelben Backstein. Es handelt sich um die Reste des ehemaligen Rittergutes Groß-Glienicke, in denen sich einige kleine Gewerbebetriebe niedergelassen haben. Durchs Tor gelangt man hinunter zur Nordspitze des Groß-Glienicker Sees. Hier steht ein noch gut erhaltenes Originalstück der Berliner Mauer. Vom alten Gutspark selbst sind im Wald nur noch ein paar Säulenreste übrig, immerhin wurde der ehemalige Gutskindergarten vorbildlich restauriert. Einem in einer einsehbaren Garage langsam verfallenden Trabbi sieht man dagegen an, daß er seine besten Zeiten schon lange hinter sich hat.

Östlich der Potsdamer Chaussee liegt inmitten der Groß-Glienicker Heide ein merkwürdiges hallenartigen Gebäudes. An der Vorderfront prangt ein (sinnigerweise mit einer Werbung für Rex Pils versehenes) Schild: „Preußenhalle". Was es indes damit auf sich hat, bleibt im Dunkeln. Der Eingang ist verschlossen, die Fenster mit Pappe zugeklebt. Preußen ist Geschichte ... Eine Eichenallee führt weiter zu einem Karree aus zwei- bzw. dreistöckigen roten Backsteinhäusern. Heute sind hier vor allem pädagogische Einrichtungen wie die Realschule „Waldschule", die Kita „Spatzennest" und der Hort „Traumzauberbaum" untergebracht. Wer aber genauer hinschaut, entdeckt, daß die Vergangenheit hier nicht ganz so poetisch gewesen sein mag. Über dem Eingang zur Kita kann man noch den Schriftzug „Café Soldatenfreundschaft" erkennen, und eine Übersichtstafel weist als weiteren Nutzer auf dem Areal ein Atelierhaus in der ehemaligen Panzerhalle auf. Das, was heute zusammen mit weiteren Gebäuden, in denen die brandenburgische Landesentwicklungsgesellschaft für Städtebau, Wohnen und Verkehr sowie das Seniorenwohnheim Waldhaus ihr Domizil gefunden haben, die Waldsiedlung Groß-Glienicke ausmacht, war also in früheren Zeiten offensichtliche eine Kaserne. Ein abgeschiedenes Fleckchen, wohin sich am Wochenende nur sehr wenige verirren. Wer hier lernt, arbeitet oder seinen Lebensabend verbringt, der hat seine Ruhe.

Folgt man dem Außenweg in Richtung Westen in den Wald, dann sieht man nach etwa zehn Minuten die ersten Häuser der Siedlung Habichtswald, eine Einfamilienhaussiedlung, die zusammen mit der benachbarten Fliegerhorstsiedlung einen idyllischen, wenn auch eher unspektakulären Vorposten der Zivilisation inmitten der Gatower Heide bildet. Die Fliegerhorstsiedlung, 1935 für die Piloten der Luftwaffe des nahegelegenen Flugplatzes Gatow gebaut, besteht aus 30 weißen einstöckigen Häusern mit Spitzdach und Rundbogentür, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht um eine hufeisenförmige Straße stehen. Der Flugplatz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Briten übernommen und stellte neben Tegel und Tempelhof Westberlins dritten Flughafen dar. Heute befindet sich hier das Luftwaffenmuseum.

Seit Schließung des britischen Militärflughafens würden Siedlung Habichtswald und Fliegerhorstsiedlung sicher zu den stillsten Orten Berlins gehören, wären da nicht die Hunde, die Hab und Gut gegenüber jedem, der nicht wie Herrchen oder Frauchen riecht, lautstark verteidigen. An Gelegenheit, den Viechern Manieren beizubringen, mangelte es in dieser Gegend eigentlich nicht. Gleich drei Vereine nennen einen Hundeübungsplatz an der Potsdamer Chaussee ihr eigen: der „Verein für Deutsche Schäferhunde", der „Rassehundeverein Berlin-Spandau" und selbst der „Nationale Dackelverein Berlin-Spandau". Nah dabei befindet sich allerdings auch ein Schießplatz. Ob bei einer solchen Nachbarschaft die ganze Hundeschule noch was nützt?

Aber egal, ob ein Briefträger vom Hund zerfleischt oder ein Autofahrer sich in Überschätzung seiner Fahrkünste um einen Baum wickeln würde, für alle wäre gesorgt. Findet sich doch dort, wo die Gatower Feldflur in das Gebiet der Rieselfelder übergeht, der Landschaftsfriedhof Gatow. 1982 aus Angst vor Platzknappheit auf anderen Friedhöfen angelegt, wurde der Standort mitten auf der grünen Wiese in den Anfangsjahren dennoch nur wenig genutzt. Ende 1988 wurde auf einem Teil des Friedhofs auch die Möglichkeit geschaffen, nach Mekka ausgerichtete islamische Beisetzungen vorzunehmen. Ende 1994 kam eine weitere Abteilung für die griechisch-orthodoxe Gemeinde hinzu. Inzwischen wird insbesondere auch die anonyme Urnenabteilung, die als Wiese mit Birken am Rande landschaftliche sehr schön ist, gerne in Anspruch genommen. Seinen Namen trägt der großzügig angelegte Friedhof jedenfalls bis heute zu recht, so daß sich ein Besuch nicht nur für Hinterbliebene lohnt. Und wo man vermuten könnte, daß sich das benachbarte Café Mortalis vor allem auf die Leichenschmäuse konzentriert, gibt es gute deutsche Küche und sonntags Brunch.

Wer von West nach Ost durch die Gatower Feldflur oder die Rieselfelder wandert, kommt früher oder später an der Gatower Straße heraus. Vielleicht an der alten Dorfkirche Gatows, einer Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert. Vielleicht an der Post, von der „Größe" her eine richtige Dorfpost, jedoch wurde auch diese Filiale vor etwa einem Jahr privatisiert. Aufrechterhalten wird der Postbetrieb seitdem allerdings nicht wie so oft von einer stadtbekannten Schreibwarenkette, sondern von einer Reinigung. Vielleicht gegenüber der zur Havel hinabführenden Jaczo-Schlucht, in der sich ein kleiner runder Turm befindet. Ein schon stark verwittertes Relief an der Außenseite zeigt einen Reiter auf der Flucht vor seinen Häschern. Es ist der slawische Fürst Jaczo von Köpenick, der der Legende nach von seinem Gegenspieler Markgraf Albrecht dem Bären im Jahr 1157 hier in die Havel getrieben wurde. Als seinem Pferd die Kräfte schwanden, betete er erstmals zu Gott, der ihn schließlich das rettende Ufer erreichen ließ. Zum Dank hing Jaczo sein Schild an einen Baum und wurde Christ. 1845 ließ König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen dann an jenem Ort zur Erinnerung an Jaczos wundersame Bekehrung zum Christentum das Schildhorn-Denkmal aufstellen. Auf der Gatower Seite reichte es dagegen nur zu jenem besagten Jaczo-Turm.

Oder aber der Weg könnte enden an der Bushaltestelle Biberburg. Vielleicht verweist der Name auf ein historisches Gebäude, das einst an dieser Stelle stand. Heute jedoch trägt diesen Namen ein Orthopädie-Zentrum, das außer einem turmähnlichen Aufbau an der linken Seite mit einer Burg nicht viel gemeinsam hat. Wäre aber bei diesem Namen nicht eine Zahnarzpraxis passender gewesen? Eine von vielen Merkwürdigkeiten in Gatows Hain und Flur...

Ralf Losekamm

 
 
 
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