Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
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Abwärts

Berlin lockt mit Niedriglöhnen

Wenn die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, wie in ihrem aktuellen Bericht Zur wirtschaftlichen Lage in Berlin, behauptet, die Berliner Wirtschaft sei auf Erholungskurs, läßt einen der gesunde Menschenverstand stutzen und etwas mißtrauisch weiterlesen. Verwundert nimmt man dann zur Kenntnis, daß die schlichte Tatsache, daß die städtische Wirtschaftsleistung nicht noch weiter zurückgegangen ist, bereits als Wende zum Besseren gefeiert wird. Mit 0,4 Prozent Wachstum findet sich Berlin nämlich im Vergleich mit den anderen Bundesländern auf Platz 16 – also ganz hinten – wieder. Das ist doch was. Für die nach Superlativen lechzende Berliner Öffentlichkeit mag es immerhin ein Trost sein.

Ganz vorne dagegen liegt Berlin dem Bericht zufolge bei der Entwicklung der Erwerbstätigkeit. Die Zahl der Beschäftigten nahm erstmals seit dem Jahr 2000 nicht ab, sondern stieg um 1,4 Prozent. So richtig gelingt es dem Bericht aber dennoch nicht, diesbezüglich Zuversicht zu verbreiten, denn man zählt hier auch die Ich-AGs und Ein-Euro-Jobber mit, von denen es in Berlin besonders viele gibt und von denen man bereits ahnt, daß sie an anderer Stelle Arbeitsplätze vernichten und sie daher nur das allgemeine Lohnniveau noch weiter senken werden.

Richtig begeistert zeigten sich die politisch Verantwortlichen deshalb, als sich zu den gewohnten Meldungen von Massenentlassungen bei Wegert, Siemens, Kindl und wie sie alle heißen, endlich einmal Ankündigungen mischten, im großen Stil Leute einzustellen. Besondere Glücksgefühle schien das Vorhaben des weltgrößten Chemie-Konzerns BASF hervorzurufen, sich neu in Berlin anzusiedeln und 500 Stellen zu schaffen. Endlich war es einmal gelungen, ein namhaftes Industrieunternehmen in die Stadt zu locken und sich dabei sogar gegen die osteuropäische Billigkonkurrenz aus Bratislava und Kraków durchzusetzen.

Industriearbeitsplätze entstehen in der neuen BASF-Niederlassung indes nicht, sondern lediglich eine Service-Stelle, in der die Abteilungen für Personal-, Finanz- und Rechnungswesen aller europäischen BASF-Standorte zusammengefaßt werden. Laut eines vom DGB in Auftrag gegebenen Gutachtens mit dem Titel Berliner Wirtschaft im Abseits ­ ohne Industrie keine Dienstleistung benötigt die Stadt aber vor allem neue Produktionsstätten, die ihrerseits „produktionsorientierte Dienstleistungen" nach sich ziehen könnten, um Berlins wirtschaftlichen Niedergang aufzuhalten. In der ehemals größten Industriestadt Deutschlands findet sich heute gerade noch jeder zehnte Arbeitsplatz im verarbeitenden Gewerbe, in den Industrieregionen um Braunschweig oder Stuttgart sind es immer noch fast die Hälfte. Eine reine Dienstleistungsgesellschaft, in der sich alle gegenseitig heiße Luft verkaufen, mag zwar der letzte Schrei sein, ist wohl aber auf Dauer nicht überlebensfähig.

In Berlin setzt man derzeit aber offenbar lieber auf Arbeit um jeden Preis. Um die BASF in die Stadt zu locken, stimmte die zuständige Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie einem speziellen Tarifvertrag für die neu einzustellenden Berliner Knechte zu ­ mit Löhnen, die bis zu 25 Prozent unter denen des normalen Ost-Tarifvertrags liegen und einer Friedenspflicht bis 2010. Ein Ergebnis, das deren Chef, Hubertus Schmidt, als Beweis für das Funktionieren der Tarifautonomie pries. „Wir brauchten einen Vertrag, der irgendwo zwischen dem normalen Tarifniveau von Berlin-Ost und Bratislava liegt", eräuterte dagegen der stellvertretende BASF-Vorstandsvorsitzende Eggert Voscherau seine Vision für Berlin.

Inzwischen hat es sich wohl herumgesprochen, daß auch fetteste Unternehmensgewinne nur selten neue Arbeitsplätze zur Folge haben. Obwohl die BASF eines der erfolgreichsten Jahre der Firmengeschichte hinter sich hat, entpuppt sich ihre Berliner Investition bei genauerer Betrachtung als Stellenstreichungsprogramm an ihren anderen europäischen Standorten. Allein der Hauptsitz in Ludwigshafen soll in näherer Zukunft 3600 ­ deutlich besser bezahlte ­ Arbeitsplätze verlieren. Aus dortiger Sicht gehört Berlin längst zu den bereits erwähnten osteuropäischen Billigkonkurrenten, gegen die es sich durchgesetzt zu haben meinte. Im Senat scheint man sich über diese Entwicklung aber zu freuen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit kann darin jedenfalls einen „Hoffnungsschimmer für den Standort Ost-Deutschland" erkennen, und man hatte ja mit dem Verlassen des Tarifverbundes der Länder für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vor ein paar Jahren bereits die Richtung vorgegeben.

Das Leben im Billiglohnland hat aber auch seine Vorteile. So braucht man seinen Nachbarn keine heile Welt vorzugaukeln und wird trotzdem nicht scheel angesehen, wenn man am Monatsende blank ist. Den anderen geht es schließlich auch nicht besser. Auch sonst hat man eine gewisse Übung darin, ohne Geld zurechtzukommen, sich irgendwie durchzuwursteln und sich preiswerten, wenn nicht gar kostenlosen Vergnügungen hinzugeben. Eine ernsthafte Wirtschaftskrise kann einen da auch nicht wirklich schocken, schon gar nicht, wenn wirtschaftliche Erfolgsmeldungen von Massenentlassungsankündigungen flankiert werden.

Wer doch mehr Patte braucht, muß entweder auswandern oder sich ab und zu für ein paar Monate in der Fremde verdingen. Anschließend kann er getrost seinen sauer verdienten Lohn zu Hause in Berlin verjubeln. Zwar gibt es zwischen Westdeutschland und Berlin kein so starkes Preisgefälle wie etwa zwischen Deutschland und Polen, weshalb sich auch Schmuggel kaum lohnt, dafür kann man sich als Deutscher seine Auszeit von den Kümmernissen eines geregelten Arbeitslebens in feindlicher Umgebung immerhin mit Hilfe von Arbeitslosengeld ein wenig versüßen. Die Stütze, die man nach einem Job in Frankfurt am Main erhält, muß man in Berlin erstmal verdienen.

Søren Jansen

 
 
 
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