Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Nachbarschaftliche Annäherung in Nordneukölln

Der Projektraum in der Hermannstraße

Man kennt das ja zur Genüge in Berlin: Ein heruntergekommener Stadtteil wird aufgrund der preiswerten Mieten von Künstlern, Studenten, kreativen Tagelöhnern und Politniks heimgesucht, bis er im Reiseführer als besonders „attraktiv", „lebendig" und „hauptstädtisch" gilt, die Miet- und Bierpreise wieder steigen und die Aufwerter sich finanziell etablieren oder eben weiterziehen müssen. So gab es schon Migrationen von Charlottenburg nach Schöneberg, nach Kreuzberg, nach Mitte und Prenzlauer Berg, nach Friedrichshain. Mittlerweile soll sogar der Wedding hip sein, und auch in Moabit werden Gemüseläden und Bekleidungsgeschäfte zu Galerien umgewandelt.

Nur Neukölln blieb von einem derartigen Auf und Ab stets verschont. Wer dort hinzieht, findet es gerade noch erträglich, weil „man gut wegkommt". Und wenn mal Besuch von auswärts kommt, fahren die unfreiwilligen Neuköllner schnell ein paar U-Bahn-Stationen nach Norden und führen die Reisenden in ihre Kreuzberger Stammkneipen. Die Bewohner Nordneuköllns direkt südlich des Kanals behaupten lieber, sie wohnten eigentlich in Kreuzberg ­ es heiße dort nur anders. Auf Pankow und Lichtenberg mag die Beliebtheit der sogenannten Szeneviertel in unmittelbarer Nachbarschaft abfärben, die Hauseigentümer Neuköllns sind wohl eher für die U8 und die Fertigstellung des Südrings dankbar.

Doch das ganze Gerede von Gentrifizierung hat schließlich auch bei den Studenten und Alternativen Früchte getragen, die es endlich satt haben, mitansehen zu müssen, wie sie stets einen Schweif von geschmacklosen Boutiquen, unbequemen Lounges und überteuerten Sushibars hinter sich herziehen. Einige von ihnen suchten vor etwa einem Jahr ganz bewußt eine Wohnstätte, die eine gewachsene, intakte und bisher aufwertungsresistente Nachbarschaft vorweist, der man sich anschließen kann anstatt sie zu verdrängen. Sie wurden in Neukölln fündig und mieteten sich eine Fabriketage in einem zweiten Hinterhof an der Hermannstraße ­ ganz legal und unspektakulär. Einmal dort angekommen, fiel auch schnell auf, daß selbst Neukölln noch mit ein paar Rudimenten alternativer Lebensweisen aufwarten kann. Im selben Haus wie auch wenige Straßen weiter hatten sich ­ schlicht der geringen Mieten wegen ­ bereits einige Wohngemeinschaften einquartiert, in der Parallelstraße hat der Stadtteil- und Infoladen „Lunte" sein soziales und politisches Engagement noch nicht ganz aufgegeben, und das Kneipenkollektiv „Syndikat" hatte man nach der Wende wohl vergessen abzuholen. Doch von einer Szene, gar von einem linken Netzwerk zu sprechen, wäre bei weitem übertrieben, wie schon die geringe Buchhandels-, Ökobäcker- und Weinladendichte beweist.

Die neu Hinzugezogenen brachten weniger vorgefertigte Strukturen, feste Weltsichten und eingespieltes Freizeitverhalten mit, sie waren eher neugierig, was sie im Kiez zu erwarten haben und luden sogleich die Nachbarschaft zu regelmäßigen Treffen in ihren sogenannten „Projektraum" ein. Diesen hatten sie direkt neben ihrer Wohnung angemietet, um einen offenen Raum für Veranstaltungen, Plena und Neuköllner Begegnungen zu schaffen. Natürlich kamen größtenteils die wenigen szenigen Nachbarn, die vermutlich ihre Bedürfnisse nach politischen Diskussionen, bekifftem Abhängen und Protestvorbereitungen zuvor in Kreuzberg oder im Ostteil Berlins befriedigt hatten. Zwar wurde auch mal ein Türke beim Nachbarschaftstreffen gesichtet, doch der unterhält selbst ein Kulturzentrum und war wohl nur neugierig, was die deutsche Konkurrenz so treibt.

Etabliert hat sich mittlerweile insbesondere die Kiezküche am Mittwoch ­ organisiert von Freiwilligen aus der Nachbarschaft und dem Haus selbst ­, die Filmabende am Sonntag ­ die zur Zeit aber reorganisiert werden ­, eine Kindergruppe, verschiedene Veranstaltungen von Arbeitslosengruppierungen und die Plena der Kiezzeitungsschreiber, die immerhin schon ihre zweite Ausgabe zum Themenschwerpunkt Überwachung, Armut und Ausgrenzung in Nordneukölln unter die Leute gebracht haben. Auch die sogenannte Freebox funktioniert prächtig: Auf einigen Regalen kann man Kleidung oder sonstige Gebrauchsgegenstände, die man selbst nicht mehr benötigt, zum Verschenken auslegen. Ein Prinzip, das schon im Umsonstladen in der Brunnenstraße in Mitte seine Erfolge feiert. Ein Kicker und ein abgeteilter Raum mit Computern und Internetanschluß sorgen dafür, daß auch außerhalb der Veranstaltungen fast immer Leute anwesend sind. Finanziert wird die Miete des Projektraumes unter anderem durch Spenden anderer Hausbewohner und einem monatlichen Soli-Cocktail-Tresen im Anschluß an die Volksküche.

Daß der Klischeeneuköllner den Einladungen in den Projektraum nur selten folgt, hat die Initiatoren von ihren Annäherungsversuchen nicht abgeschreckt. Wenn die Menschen sich nicht in den zweiten Hinterhof trauen, müssen wir eben zu ihnen auf die Straße gehen, mögen sie sich gedacht haben, und verlegten ihre Volksküche und ihre Freebox im letzten Oktober kurzerhand auf den Gehweg der Hermannstraße. Eine ältere Dame überwand dabei schnell ihre Berührungsängste und zog – wenn auch erst nach mehrmaligen höflichen Fragen, ob sie die ausgesuchten Klamotten wirklich unentgeltlich mitnehmen dürfe – mit vier prallen Plastiktüten breit lächelnd von dannen.

Georg Manolesco

Projektraum, Hermannstraße 48, Neukölln, 2. Hinterhof, 1. Stock, Kiezküche immer mittwochs ab 19 Uhr.
Offener Café- und Werkstattraum immer donnerstags ab 17 Uhr. Informationen und Termine unter h48.de

 
 
 
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