Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Von Krautrock bis Harald Schmidt

In On the Wild Side schreibt Martin Büsser die „wahre Geschichte des Pop"

„Pop ist wie das Leben selbst: überraschend, unvorhersehbar und eigenwillig. Manchmal will er die Welt vergessen und machmal verändern." Mit diesem Fazit schließt Testcard-Herausgeber Martin Büsser sein etwa 250 Seiten starkes Buch über die wahre Geschichte des Pop" – eine „Geschichte, die nach Ansicht des Autors ihren Anfang nicht etwa mit den Nachkriegsrockern Bill Haley und Elvis Presley, sondern im Jahre 1966 mit den Beatles und den Beach Boys genommen hat, „weil die Geschichte des modernen Pop dort ansetzt, wo Musiker erstmals für ihren eigenen Sound verantwortlich waren".

Popmusik geht also, zumindest nach dieser Datierung, in diesen Tagen auf ihr 40jähriges Bestehen zu. Da ihre Geschichte inzwischen so reich an Ereignissen und Genres ist, dürfte die Hauptschwierigkeit beim Schreiben einer solchen Geschichte ­ zumal der wahren ­ sicher nicht im Mangel an authentischem Material bestehen, sondern in seiner Strukturierung. Schaut man sich On the Wild Side genauer an, scheint für Martin Büsser diese Schwierigkeit letztlich keine gewesen zu sein, zumindest keine besonders große. Büssers jüngstes Buch ist ein wohltuend unverschroben geschriebener Überblick über die seit dem Geburtsdatum des Pop existierenden populären Stile, über ihre Brüche, Weiterentwicklungen und Transformationen.

In den sechziger Jahren in Invektiven etwa des Philosophen Theodor W. Adorno als primitive und völlig banale Musik hingestellt, feierte Pop mit dem Album Pet Sounds von den Beach Boys 1966 seinen ersten großen Hit, bevor David Bowie, Can, die Beatles, Pink Floyd und viele andere kurze Zeit später mit furiosen Alben nachlegten, die im Verlauf der Pop-Ära immer wieder „getoppt" wurden oder zumindest „würdige" Nachfolger fanden, zuletzt z.B. in den Veröffentlichungen von so unterschiedlichen Künstlern wie Johnny Cash, Aphex Twin oder der nordeuropäischen Folkband Sigur Ros. Bemerkenswert an vielen dieser Musiken ist dabei, daß sie nicht jenseits des Wissens, sondern im Wissen um die inhaltlichen Entwicklungen des Pop entstanden sind, so daß man es häufig mit einer pophistorisch bewußten, phantasievollen Version innerhalb eines Pop-Kontinuums zu tun hat, in dem das Durchschauen der eigenen musikalischen Einflüsse und Stilmittel zu einer Potenzierung künstlerischer Kreativität geführt hat, deren Ergebnis dann fast zwangsläufig auf mehr oder weniger breite Resonanz stößt.

Inzwischen ist Pop vom musikrevoltierenden Kulturelement, dessen Impulse häufig auch in einer bewußten Affirmation der modernen Welt (z.B. Andy Warhols Pop Art) bestanden, zum allgemeinen Ausdruck westlicher Freiheit und Selbstbestimmung mutiert und braucht längst nicht mehr ausschließlich mit musikalischen Mitteln kolportiert zu werden, um Pop zu sein. „Der Entertainer Harald Schmidt galt plötzlich genauso als Pop-Phänomen wie Medienkanzler Gerhard Schröder oder ein im Wahlkampf mit "Guidomobil' durch die Lande fahrender FDP-Vorsitzender", schreibt Büsser, wobei hier sicherlich das Bedürfnis nach „innovativer" Auflockerung mit demjenigen nach massenwirksameren Einflußnahmetechniken korrespondiert.

Mit Pop, wie er sich in 40 Jahren durch musikalische, fast immer von speziellen Lebensstilen begleiteten Genres wie New Wave, Krautrock, Punk, Disco, Grunge, Hip Hop, Industrial bis zu Techno manifestiert hat und in jüngster Zeit durch Richtungen wie Sadcore und Postrock erweitert wurde, hat das aber recht wenig zu tun. Denn Popkultur lebt vor allem in und durch Musik, ist – nicht selten ironisch gebrochener – Ausdruck von Gefühlen, „äußert Hoffnungen, Ängste, Erwartungen. Manchmal entwikkelt populäre Musik sogar Visionen und Utopien, die schon bald ihren Niederschlag in gesellschaftlichen Veränderungen finden. Am Ende geht es um elementare Dinge, um Liebe und Tod, Einsamkeit, Angst, Wut, Trauer und Erlösung. Es geht um Übertreibung und Verausgabung und darum, diese Gefühle mit anderen Menschen zu teilen." Weil Musik für die Verbreitung dieser elementaren Dinge ganz offensichtlich der sinnlich direkteste Weg ist, gehörte sie von Beginn an zum bevorzugten Ausdrucksmittel der Populär-Kultur. Pop, das ist – nicht nur für Martin Büsser – schon immer und wohl auch weiterhin vor allem populäre Musik. Popmusik.

Wolfram Hasch

Martin Büsser: On the Wild Side. Die wahre Geschichte des Pop. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004. 19,90 Euro

 
 
 
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