Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Im Schatten der Glühlampe

Zur Biographie des Viertels um den Rudolfplatz

Überquert man von Friedrichshain kommend auf der Modersohnbrücke die S-Bahngleise, so gelangt man in ein kleines, etwas abseitiges Viertel, das viele fälschlicherweise zu Stralau zählen. Einen richtigen Namen hat man der Gegend bisher nicht verpaßt. Martin Wiebel, Autor des Buches East Side Story – Biographie eines Berliner Stadtteils, sähe das gerne geändert und schlägt allen Ernstes „Upper East Side" vor. Angesichts dieser plumpen Marketingidee, mit der er wohl glaubt, seine Immobilien besser unter die Leute bringen zu können, möchte man sein Machwerk am liebsten direkt in die Ecke pfeffern. Das wäre allerdings doch etwas voreilig. So schlimm ist das Buch dann auch wieder nicht. Und das Viertel, das es porträtiert, hat in seiner Widersprüchlichkeit zumindest seinen eigenen Charme und kommt überdies im üblichen Repertoire der unzähligen Berlin-Bücher kaum vor.

Martin Wiebel ist nicht nur Sprecher der „IG Eigentümer und Hausverwaltungen im Quartier Rudolfplatz", sondern auch Urenkel des Stadtteil-Gründers Maximilian Koch und ein paar Meter vom Rudolfplatz entfernt in der Rotherstraße zur Welt gekommen, wo er heute auch wieder wohnt. Sein Buch erzählt deshalb sowohl die Geschichte seiner Familie als auch die des Viertels um den Rudolfplatz. Dazu läßt er haufenweise Zeitzeugen zu Wort kommen. Dadurch entsteht das Bild eines Stadtteils mit einst sehr viel regerem Kiezleben. Jahrzehntelang stand er im Schatten des benachbarten großen Glühlampenwerks und schlief nach dessen Abwicklung etwas ein, nachdem er bereits durch den Mauerbau an den Rand gedrängt worden war. Man erfährt von Arbeiterdynastien, von Familien also, die seit Generationen bei Narva arbeiteten und oft im Kiez, in Häusern der ehemals betriebseigenen Wohnungsbaugenossenschaft, wohnten. Leider neigt der Autor dazu, die Interviews etwas überzuredigieren. So richtig nimmt man es ihm nicht ab, daß die 90jährige Gerda S. in schönstem Technokratendeutsch „auf der Ecke war, wie überall auf jeder Ecke in unserem Quartier, eine Bierkneipe" in sein Mikrophon kommuniziert haben soll.

Auf der Suche nach einer dieser Gastwirtschaften kann man heute leicht verdursten. „Zur Glühlampe" an der Rudolf-/Ecke Lehmbruckstraße, eine der letzten Schichtarbeiterkneipen in der Gegend, erlitt ein ähnliches Schicksal wie das „Kaffee Burger" in Mitte. Nachdem sie zuletzt angesichts fehlender Narva-Trinker nur noch vor sich hindümpelte, fielen hier die Trendsetter ein und machten aus der alten Kaschemme ein angesagtes Tanzlokal mit original ostprolligem Flair. Statt der vielen Eckkneipen buhlen heute hauptsächlich ein paar auf italienisch machende Cafés um Kundschaft, und direkt neben dem U-Bahneingang gibt es eine „Narva-Lounge".

Martin Wiebel frohlockt deshalb bereits und attestiert der Gegend um den Rudolfplatz sogar „den Nimbus des Aufbruchs, den der Stutti in den sechziger Jahren und der Nolli in den achtziger Jahren beanspruchten". Damit weiß man auch, daß er die meiste Zeit seines Lebens nicht in der Rotherstraße verbracht hat, sondern in Westberlin. Sein zur Schau gestellter Optimismus mag vielleicht etwas großspurig daherkommen, dennoch ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß das Viertel im Umbruch begriffen ist. So wie das Narva-Kombinat der Gegend einst seinen Stempel aufdrückte, scheint dies nun die Medienbranche tun zu wollen, die man seit ein paar Jahren in die aufgemotzten und in „Oberbaum-City" umbenannten alten Narva-Gemäuer zu locken versucht. Daß das bisher allerdings nur eingeschränkt gelang, kann man sehen, wenn man einmal hinter die Fassaden schaut und durch die etwas versteckteren Gänge der Oberbaum-City stromert. Die Medienarbeiter, die sich hier breitmachen, kommen wohl hauptsächlich aus der Deutschland-Zentrale von Universal Music, die sich in dem alten Eierkühlhaus direkt neben der Oberbaumbrücke niedergelassen hat.

Die Stärke des Buches liegt sicherlich nicht in der Darstellung der Jetztzeit oder gar in seinem Ausblick auf die Zukunft, sondern in seinen vielen Gesprächsprotokollen, dort, wo durch Erzählungen Vergangenes lebendig und die Widersprüchlichkeit des Viertels deutlich wird. Schnell merkt man dabei, daß man sich bis zum Mauerbau durch den U-Bahnanschluß eher Richtung Westen orientierte. Das könnte auch bald wieder so sein. Die Spuren der Universal-Arbeiter zumindest finden sich bereits auf beiden Seiten der Spree.

Dirk Rudolph

Martin Wiebel: East Side Story. Biographie eines Berliner Stadtteils. Antje Lange Verlag, Berlin 2004. 9,90 Euro

 
 
 
Ausgabe 1 - 2005 © scheinschlag 2005