Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

ditte & menschenkind

Per aspera ad astra

Der Schließer ist zu hart eingestellt. Die Stellschrauben müssen nachjustiert werden. Die Zukunft hat wieder einen Namen: Reform! Das Reformkleid von 1901 war auch nicht gleich der geniale Wurf! Wie haben sie sich die Mäuler zerfetzt über die Sackkleider, bloß, weil die Korsage weggefallen ist. Nun wird sie wieder angelegt, die Korsage, und schon schäumen sie wieder, die Mäuler: Der Schließer ist zu hart eingestellt, die Stellschrauben müssen nachjustiert werden.

Höhö, höhnt Menschenkind, wer hat bloß diese blöden Stellschrauben in die Debatte geworfen, wie Ackersenf auf unfruchtbaren Boden? Klemmzwingen oder Streckbetten wären viel besser gewesen. Ich plädiere dafür, daß die Schraubstöcke angezogen werden, daß man Nägel mit Köpfen macht und das Holz mit der Axt spaltet! Oder die entsprechenden Bretter vorm Kopf. Und außerdem sollte man sowieso alle Dünnbrettbohrer zwangsverpflichten, endlich wieder dicke Bretter zu bohren.

„Huch, was hast du denn da!" begrüßt Ditte ihren Freund vor der Volksbühne, indem sie ihm an den Kopf greift. „Ja, was habe ich denn da? Wahrscheinlich treten meine Gedanken hervor. Kannst Du eine Stellschraube sehen?" Regelrecht angesteckt von Dittes Visionen fummelt sich Menschenkind an der Stirn herum. Kaum taucht das Weibsbild auf, schon ist Schluß mit lustig. Keine schweifenden Gedanken mehr über Gesellschaft, Politik und Philosophie, nur Fakten, Fakten, Fakten.

„Huch, was hast du denn da?" imitiert Menschenkind Ditte mit fistelnder Stimme und hebt ihren Schal an. „Wie siehst du heute überhaupt aus da, es will mir dünken, es ist ein sackartiges Kleidungsstück im Reformlook, was deinen Körper umhüllt. Bist auch du im Reformwahn, als wärest du eine Führende, äh, eine führende Sozialdemokratin vielleicht? Was machen wir hier eigentlich?"

Menschenkind kann sie immer wieder überraschen. Er hat sie doch zu dieser Zeit vor die Volksbühne bestellt und ihr noch im nächsten Anruf aufgetragen, mit einer Kledage der goldenen Zwanziger zu erscheinen.

Es stünde ihnen etwas bevor, hatte er geraunt, und nun weiß er von nichts, hält sie womöglich noch für, aber welche Frau führt eigentlich bei den Sozialdemokraten? Ihr fällt nur Heide Simonis ein. So soll sie also aussehen. Na, warte, Menschenkind, du wirst dein blaues Wunder erleben!

Sie wendet sich brüsk ab und enteilt hurtigen Schrittes Richtung Untergrundbahnstation. „Hallo, aber hallo, warte doch mal!" ruft der Vertraute hinter ihr her, doch sie denkt überhaupt nicht daran stehenzubleiben. Nun muß er sich entscheiden, entweder eingeschnappt stehenbleiben oder ihr nacheilen. Nach kurzer Denkpause entschließt er sich zu letzterem. Etwas atemlos holt er sie auf dem unteren Treppenabsatz ein.

„So war das doch nicht gemeint, bitte, bitte, Ditte! Du bist keine führende SozialdemokratIn. Aber irgendwie hast du mich falsch verstanden. Wir wollten uns an der Volksbühne treffen. Das stimmt. Im Gewande der goldenen Zwanziger, habe ich gesagt, kommen nun die neuen Reformer daher. Wenn ich mich jetzt zu erinnern versuche, kann es sein, daß ich nur ‚Im Gewande der goldenen Zwanziger' gesagt habe. Was mich aber bewogen hat, mich mit dir zu treffen, hier und heute, steht auf einem anderen Blatt. Zum betreuten Schnuppern nämlich. Inklusive Ausrüstung."

„‚Null Ahnung vom Klettern? Steig ein in die vertikale Erlebniswelt! Entdecke deine Grenzen!' Ich will mit dir in die Kletterhalle Magic Mountain, dort in die vertikale Erlebniswelt einsteigen. Da gibt es künstliche Felsen mit Löchern drin, dann so Brücken und Treppen, man kann da auch an Tischen sitzen und Kletterlektüre studieren, na ja, sich also mental auf den Aufstieg vorbereiten, los, komm schon."

Ditte bemerkt, wie sie langsam weich wird. Menschenkind blickt ihr mit entschlossenem Luis-Trenker-Blick tief in die Augen. „Na schön", sagt sie dann doch, „aber nur, wenn während des Schnupperns weder Stellschrauben, Reformen noch führende SozialdemokratInnen vorkommen!" „Gebongt", versichert Menschenkind fast glaubhaft, und sie kraxeln Arm in Arm in Richtung Gesundbrunnen. Der Berg ruft, nicht der Prenzlauer. Der Magic Mountain!

Brigitte Strutzyk/Dieter Kerschek

www.MagicMountain.de

 
 
 
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