Ausgabe 10 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Jahresendspecial Arbeit. Teil 1.

Simulanten

Den Job als Lagerarbeiter hatte ich, wie ich später erfuhr, im Grunde genommen nur dem ewigen Gejammer meines Arbeitskollegen zu verdanken, der behauptet hatte, er schaffe die ständig zunehmende Arbeit allein nicht mehr. Also wurde ich ihm als Hilfskraft zugesellt.

Letztlich war es dann so: Mein Chef lief aufgeregt durchs Lager, ohne ersichtlichen Grund, fummelte hier, fummelte dort sinnlos herum, trieb Geschäfte mit verschiedenen Betriebskunden, nach deren Abwicklung meist etwas aus dem Lager fehlte, fuhr zwischendurch weg, „um etwas zu erledigen", oder auch immer wieder mal nach Hause, um dort nach dem Rechten zu schauen, kam zurück und gab überflüssige Anweisungen. Ich machte währenddessen die gesamte Arbeit und hatte trotzdem noch genug Zeit für ein tägliches, zweistündiges Nickerchen im Büro. Wenn mein Chef allzu lange wegblieb, konnte es schon ziemlich langweilig werden; man hatte ja niemanden mehr, dem man beim aufgeregten Hin- und Herrennen zusehen konnte.

Manchmal, wenn es mir nötig erschien, nicht selten jedoch aus purer Langeweile, simulierte ich den Schwerbeschäftigten, indem ich mit dem Gabelstapler leere Holzpaletten von der einen Ecke in die andere stapelte. Bei einer dieser Aktionen sorgte ich immerhin dafür, daß mein Chef, ich und andere Kollegen wirklich zu tun bekamen: Mit dem unbeladenen Gabelstapler rauschte ich fröhlich hoppelnd über den schlaglochübersäten Hof des Betriebs, vollführte ein rasantes Wendemanöver, der schwere Batterieblock hüpfte hoch, der Gabelstapler kippte auf die Seite, fiel aber nicht um. Die Batterie war nicht ganz herausgefallen, sie hing schräg über die rechte Seite des Staplers, Säure tropfte heraus. Es brauchte fast eine Stunde, bis die Batterie wieder zurückgehievt und der Stapler wieder zum Laufen gebracht werden konnte.

Ich machte den Job ein paar Monate. Dann kündigte ich. Aus purer Langeweile.

Roland Abbiate

O Schicksal, o traurige Pflicht

Schuberts Totengräber (D 842) – ich trag's länger nicht! – sehnt sich selbst ins Grab, sieht aber das Problem, wie die Grablegung ohne seine Mitwirkung erfolgen soll: Doch ach! Wer legt mich hinein? Dietrich Fischer-Dieskau leiht der bereits 1826 etwas aus der Mode gekommenen Figur des Totengräbers seine Stimme: Was musikalisch vorgeht, ist von mitreißender Gewalt. Am Friedhof, wo seltener Gräber ausgehoben, häufiger Wege geharkt & verdorrte Kränze entsorgt werden müssen, wird bereits um 9 Uhr morgens, in der ersten Pause, Schnaps getrunken. Wir tranken also in der Totengräber-Werkstatt. Einem Sonderling in dieser sonderbaren Belegschaft, der immer etwas abseits saß, wurde nachgesagt, er blühe richtig auf bei Exhumierungen – für die Kollegen unerfreuliche Aufgaben, weil es da Gräber zu öffnen gilt mit Leichen, die sich häufig mitten im äußerst geruchsintensiven Verwesungsprozeß befinden. Ihm mache das nichts aus, im Gegenteil.

Bier & Schnaps auch in der Mittagspause, ein Bier auch mal zwischendurch, Gedenken an Hermann Burger, den Inspirator dieses sommerlichen Totengräber-Praktikums, & dessen alter ego Peter Stirner, den im Totengräber-Haus lebenden Schriftsteller, den die Pfaffia von dort vertreiben will & dem auch Dr. Krähkamp nicht helfen kann: Die letzten Monate von Peter Stirners Leben in Starrkirch waren, dies seine Worte, ein am Ort tretender Trauermarsch vor der Leichenpforte. Wo der Bagger nicht hinkommt, muß dann doch einmal ein Grab von Hand ausgehoben werden. Eine geistliche Krankenschwester ist verstorben, ein Fußwurzelknochen wird als Souvenir einbehalten. Das stärkste Suchtmittel ist der Tod selbst, sagt Hermann Burger. Meinen Arbeitsplatz darf ich einmal frühzeitig verlassen, um rechtzeitig in München zu sein, wo Dietrich Fischer-Dieskau auch Totengräbers Heimwehe singen wird: Im Leben da ist's ach! so schwül, ach! so schwül! im Grabe so friedlich & kühl!?

Florian Neuner

„Wenn du da oben bist"

Vor den Jobs hat man mich immer gewarnt. Unsicheres, gefährliches Geld sei das, das einen vom Wesentlichen, nämlich vom beruflichen Aufstieg, ablenke. Man kennt ja diese Fälle: die Juristen im Taxi, die Biologen auf dem Messebau, all die Geisteswissenschaftler, die hinterm Tresen arbeiten oder sich davor mit tschechischem Bier besaufen. Aber das Entscheidende ist doch, daß diese Leute irgendwie über die Runden kommen. Viel weiter kommen die Aufsteiger auch nicht mehr.

Nicht die Jobs lenken vom Wesentlichen ab, sondern die Praktika. Ihre Aufgabe ist es, uns an nicht nur unsichere, sondern auch demütigend unterbezahlte Arbeitsverhältnisse zu gewöhnen. So ist es zumindest beim Architekturstudium, das gleich zwei Praktika vorschreibt, eins im Handwerk und eins im Büro. Das Büropraktikum führt bestenfalls zu einer Karriere als billiger Scheinselbständiger, der bis in die Nacht Standarddetails oder Präsentationskitsch zeichnet. Das Praktikum im Handwerk ist gutgemeint; aber eigentlich auch unsinnig. Hier sollen die Architekturstudenten lernen, daß Entwerfen etwas mit Bauen zu tun hat, aber da die meisten nie entwerfen werden, ist das im Grunde egal.

Ich lernte bei meinem Handwerkspraktikum, was ein guter Job ist. Ich war Hucker auf dem Bau und bekam angemessenen Lohn, Urlaubsgeld, Wochenendzuschläge sowie einen klaren Arbeitsauftrag. Ein Hucker schleppt die Steine und mischt den Mörtel. Wenn der Chef kommt ­ man roch von wei-
tem seine Pfeife ­, versteckt sich der Hucker oder lädt sich demonstrativ ein paar Steine extra auf. Bei den Kollegen, den Maurern, macht er sich beliebt, indem er bei der Arbeit pfeift und immer genug Steine, manchmal auch ein Bier bringt.

Als das halbe Jahr vorüber war und ich vom Bau an die Uni wechselte, nahm mich der Polier zur Seite und erklärte feierlich, daß ich ein guter Hucker gewesen sei. Dann sagte er eine traurige Dummheit: „Vergiß uns nicht, wenn du da oben bist." Er hätte sich keine Sorgen machen müssen.

Otto Witte

Trinkgeld ­ nein danke!

Ich habe nie gekellnert. Nie in einer Küche gearbeitet und nie in Telefonhörer gegurrt. Ansonsten habe ich viele Jobs ausgeübt, als man noch Arbeitsstelle dazu sagte. Ich habe Pakete sortiert, Theater gespielt, Pferdewetten angenommen, Kaugummis, Jogginganzüge und Handtaschen verkauft, war Ferienlagerbetreuer und Reiseleiter. Manchmal ordentlich bezahlt. Nur eines gab es selten: Trinkgeld. Und ich war auch nie scharf darauf. Ich hatte mein Berufsleben mit dem Geheiß angetreten, niemals Trinkgeld anzunehmen. Ich lernte Krankenschwester. Da passierte mir schon im ersten Lehrjahr etwas Entsetzliches.

Ich trug meinen rosa Kittel. In einer Hand hielt ich ein Tablett mit dem Hand-Rasierapparat, in der anderen eine Nierenschale voller weißer gekringelter Haare. Im Weggehen fuhr mir eine zittrige Hand in die Kitteltasche, brachte mich beinahe zu Fall und ließ etwas Knisterndes zurück. Ich sah dem Mann entgeistert ins Gesicht. Er sabberte grinsend: „Für Schie, Schwescherchen! Weilsch scho schön war ..." Ein dünner Speichelfaden lief aus seinem faltigen Mund, tropfte auf das Kopfkissen. Seine Zähne dümpelten im Glas auf dem Nachttisch. Ich flüchtete aus dem Saal. Das Lachen der 15 übrigen Patienten schallte mir auf den Flur hinterher. Ich lief ins Bad der chirurgischen Station und knallte das Zeug in die Badewanne, setzte mich auf den Rand und fingerte einen Fünfmarkschein aus meiner Kitteltasche. Mein erstes Trinkgeld. Für meine erste, ganz allein ausgeführte operationsvorbereitende Analrasur.

Anne Hahn

Schokolade macht glücklich

Als ich meinen ersten Fabrikjob annahm, war es Frauen noch nicht erlaubt, Nachtarbeit zu verrichten, nur die Kerle konnten den 50prozentigen Zuschlag einheimsen. Der Gesetzgeber hielt es für unverantwortlich, daß wir schwachen Geschöpfe um 22 Uhr zur Schicht antreten. Also durften wir uns morgens um fünf auf den Weg zu den Marmeladenwerken machen, als es immer noch dunkel und die Stadt völlig ausgestorben war.

Die ersten drei Tage verbrachte ich bei den Erdbeeren. Eigentlich sollten wir die auf dem Fließband heranrollenden Früchte von Fremdkörpern reinigen. Da in der Matsche aber nur höchst selten überhaupt Beeren zu erkennen waren ­ die etwas knautschigen Teile in der Frühstückskonfitüre aus „unserer" Ernte waren keineswegs Fruchtstücke, sondern Nacktschnecken ­, blickten wir nur desinteressiert auf die Bänder, freuten uns höchstens einmal, wenn man eine noch eßbare Frucht ergattern konnte. Einige täuschten Ohnmachtsanfälle vor, um dem bestialischen Obstgestank zu entgehen und in andere Abteilungen versetzt zu werden.

Ich hatte auch so Glück und kam zur Kuchenglasur. Eine höchst abwechslungsvolle Tätigkeit: Mal durfte man zwölf, mal 16 Packungen Karamelglasur in Kartons packen. Ab und zu fielen die Maschinen aus – manchmal nicht ganz zufällig. Während sie warteten, verabredeten sich meine Kolleginnen – fast ausnahmslos schon seit Jahren dort beschäftigt – zum Tanzen. Auch mich wollten sie mitnehmen, hätte ich mich nach der Schicht nur dazu in der Lage gefühlt. Am vorletzten Tag meines Jobs brach Jubelgeschrei aus: Die Maschinen wurden von Karamel- auf Schokoladenglasur umgestellt. Die Motivation für die ganz neue Beschäftigung war so groß, daß an diesem und dem darauffolgenden Tag nicht ein einziges Mal die Maschinen muckten.

Susann Sax

 
 
 
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