Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Spiegelungen

Die Losen Blätter enthüllen aparte Nervaturen

Im W. G. Sebalds Roman Austerlitz wird dem jungen Protagonisten an der walisischen Küste die Schönheit der Motten eröffnet: „Manche trugen Halskrägen und Umhänge, wie vornehme Herren auf dem Weg in die Oper; einige waren von einfacher Grundfarbe und zeigten, wenn sie die Flügel rührten, ein phantastisches Unterfutter, Quer- und Wellenlinien sah man, Verschattungen, Sichelflecken und hellere Flecken, Sprenkelungen, gezackte Bänder, Fransen und Nervaturen und Farben, wie man sie sich nie hätte ausmalen können."

Ähnlich verhält es sich mit der Literaturzeitschrift Lose Blätter, deren Aufmachung einem dezenten, schmächtigen Falter gleicht, deren Inneres aber nicht selten aparte Nervaturen zeitgenössischer Literatur enthüllt.

Das Unaufgeregte scheint zu den Basisprinzipien des mittlerweile acht Jahre alten, über 30 Ausgaben lang währenden Projektes zu gehören. Selten mischen sich die Herausgeber in aktuelle Debatten, ohne jedoch dadurch als ignorant zu erscheinen. Die Losen Blätter zeigen ihre Kundigkeit in der Auswahl der Texte. Man sammelt Unbekannte Pilze des heute leider nur mehr marginal wahrgenommenen Lyrikers Jürgen Becker genauso, wie man gern verkaufsträchtigere Namen ins eigene Menü einspeist.

Das Herz der Zeitschrift gehört unübersehbar der Lyrik, doch schlägt es gleichrangig auch prose. Gelegentlich wird die Gattung des Interviews gepflegt, und von Zeit zu Zeit ragen Essays aus der enklaven Welt der Poesie heraus. Leider erweckt die jeweils nur eine Rezension den Eindruck, daß hier der klassische Modus eine Literaturzeitschrift absolviert wird. Lose Blätter wirkt nicht zuletzt auch dadurch weniger zeitgeistig als die um Hochglanzattribute und den Premiumtitel „Entdeckerzeitschrift" ringenden Magazine EDIT oder BELLA triste. Gleichwohl finden Entdeckungen statt, wenngleich viele Autoren auch woanders zu finden sind.

Das ergibt auf Dauer – mittels fortlaufender Numerierung hat man sich diese Konsequenz von Beginn an auferlegt – dennoch das, was Literaturzeitschriften auch sein sollten: durch Spiegelungen literarischer Gegenwart lebendige Atlasmaßnahmen. Für Invektiven und Gegenkartographien gibt es andere Orte.

Ron Winkler

Die „Losen Blätter", hg. von Renatus Deckert und Birger Dölling, kosten 1,50 Euro, www.lose-blaetter.de

 
 
 
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