Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Weites Feld Lyrik

Die intendenzen zeigen, wie langweilig und spannend Gedichte sein können

Nach zwei Jahren melden sich die intendenzen wieder zurück. Anhaltenden Finanzierungsschwierigkeiten zum Trotz kann Herausgeber Ron Winkler nun die 10. Ausgabe der „Zeitschrift f. Literatur" vorlegen, die im wesentlichen eine Zeitschrift für Lyrik ist: komprimierter und konzentrierter als je zuvor, Text pur mit Ausnahme einer kleinen Graphik auf der Titelseite. Und einmal mehr reibt man sich verwundert die Augen, wie viel Platz unter dem großen Dach Lyrik für Anregendes und Abgestandenes, für Zeitgenössisches und Reaktionäres zu sein scheint bzw. Ron Winkler gewähren möchte.

Die aktuellen intendenzen widmen sich der Frage, wie Gedichte aufeinander reagieren und verweisen, wie Lyriker sich beieinander bedienen, kurz: dem Phänomen der Intertextualität. So erklärt sich Friederike Mayröcker in einer „Notiz" zu einer Allesverwerterin: Gespräche, Lektüren, „Verlesungen oder Verhörungen" fließen in ihre Texte ein, auch ihre eigene Arbeit wird quasi recycelt: „Ich blättere in meinen Büchern und werde fündig." Ulf Stolterfoht setzt sich in einem Gedicht so gewitzt wie unterhaltsam mit Reinhard Priessnitz auseinander und empfiehlt den Erwerb der gar nicht teuren Werkausgabe im Droschl Verlag – ein Rat, den Lars-Arvid Brischke, Stephan Gürtler und Rainer Stolz beherzigen sollten, die im sommerlichen Pichelsdorf eine fade „Kettendichtung" erstellt haben („Plopp – da fällt ein Apfel/und bleibt liegen/gar nicht weit von mir.") Jan Wagner beliebt ein Plädoyer für die „alten Schläuche", in dem er Sestine und Vilanelle gegen „einen längst überholten Avantgardebegriff" in Stellung zu bringen versucht, mit einem Bibelzitat einzuleiten; daß man mit den alten Formen auch intelligenter umgehen kann, könnte diese „junge Lyrik" bei Altmeister Oskar Pastior lernen. Eine Kooperation zwischen Crauss und René Hamann schließlich führt ein Reagieren von Gedichten auf Gedichte gleichsam in statu nascendi vor. In der Regel aber verwirren sich die Einflüsse, dazu Crauss' Feststellung: „Im Moment des Schreibens sind originärer Einfall und Gedächtnisschleifen ununterscheidbar."

Peter Stirner

Heft 10 kostet 3,50 Euro, www.intendenzen.de

 
 
 
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