Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Stadt als Sperrgebiet

Foto: Knut Hildebrandt
Foto: Knut Hildebrandt

Der Film und die Stadt haben seit jeher einiges miteinander zu tun. Eine Kulturgeschichte der Moderne wäre ohne diese Verbindung nicht zu denken, geschweige denn zu diskutieren. Das Anwachsen der Industriemetropolen im 19. Jahrhundert, ihre Niederkunft spätestens in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts in jenen Boulevards und berühmt-berüchtigten Straßen von den Champs-Elysées bis zum Broadway – das war Kino und Metropolenerfahrung zugleich: Das beschleunigte Leben hatte den Schock eines Baudelaire schon längst zur Sucht des Großstädters gemacht. Das Leben, die Massen, die Menge – Konsum und Vergnügen, sprießende Architekturen...

Dies alles sind Gemeinplätze der kulturwissenschaftlichen Stadtdebatte, weiter zu befragen wäre also eher der Wahrnehmungswandel, der aus einer solchen technologischen Entwicklung resultiert, die Metropole als Transitort, der Transit auch im Kino. Ja, das ist das eine. Die andere Seite wäre eine Filmkultur der untergehenden Städte, der schrumpfenden Städte, wie sie das „Shrinking Cities"-Filmfestival Mitte Oktober parallel zur gleichnamigen KunstWerke-Ausstellung im Zeughaus-Kino des Deutschen Historischen Museums zur Diskussion stellte.

Verfallene, untergehende, verlassene Städte gibt es im Kino en masse, es unterscheiden sich jedoch die Genres und der Anspruch an die Arbeit mit dem Setting. Es gibt die Verwendung von nachgebauten Straßen und Vierteln genauso wie den Vor-Ort-Dreh in der echten Metropole. Letzteres vorgemacht haben insbesondere die italienischen Neorealisten. So war es Roberto Rosselini, der kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges seinen Film Germania anno zero im zerbombten Berlin drehte. Kaum verwunderlich, daß dieser Film als einer der ersten der Reihe zu sehen war. William Wylers Dead End von 1936 zeigt uns dagegen die Kulissenhaftigkeit des Film Noir am Beispiel eines Dock-Viertels von Manhattan, in dem die Gegensätze von Arm und Reich genau dann aufeinanderprallen, als die New Yorker Upper Class die Riverside als pittoreske Aussichtsplattform für ihre Wohnungen meint entdecken zu müssen. Daß diese Aussicht als Aufsicht nicht unbedingt etwas mit einem tatsächlichen Wohnen vor Ort zu tun haben muß, wissen wir spätestens seit Michel de Certeaus Schriften gegen den Panoramablick. Dies demonstrieren allerdings im Film auch die Straßenkids zu Füßen der Panoramawohnungen. Mit großen Schauspielleistungen überraschen hier eher diese jungen Gang-Darsteller; Humphrey Bogart wird von ihnen locker an die Wand gespielt.

Die Kuratorin Antje Ehmann, die zusammen mit Michael Baute und Harun Farocki für sämtliche filmische Themenkomplexe von „Shrinking Cities" verantwortlich zeichnet, hat sich in dieser Reihe zur schrumpfenden Stadt ganz auf den Gang-Film konzentriert. Das ist nicht weiter verwunderlich, stellt dieser Bereich doch ein ums andere Mal Überlebensstrategien meist in kaputten, relativ üblen Vierteln einer großen Stadt dar. Und dies am Beispiel der Jungen, der Aufbegehrenden und Suchenden, aber auch jener, die hier aufgewachsen sind, die ihr Revier kennen und verteidigen. Es handelt sich um Mitläufer genauso wie um einsame Wölfe, Kämpfer im schlechtesten und besten Sinne des Wortes.

Dabei verlangt es die Genrestruktur, daß die Besten in die schlimmste Situation geraten – entweder müssen sie sich in einer Bande oder mit ihrer Gang unter allen anderen Gangs behaupten. Das Territorium kann dabei nur ein bis zwei Viertel in Anspruch nehmen, wie in Jack Hills Switchblade Sisters von 1975, oder aber eine ganze Stadt wie in Walter Hills The Warriors von 1978. Ersterer ist dabei noch ein grandioser Girl-Gang-Film, letzterer ist Kitsch-Kult schlechthin. Die Metro von New York City ist Ort der Handlung und bringt eine zu Unrecht verfolgte Gang von einem gefahrvollen Viertel in den nächsten Sumpf. In diesen Stadtvierteln herrscht überall der Kampf ums Überleben, Autowracks qualmen, Graffiti allerorten, keiner mehr auf der Straße außer Bandenmitgliedern und ab und an mal Polizei. In diesen verfallenden Städten herrscht schon lange Ausnahmezustand, die Gebäude sind verlassen, verfallen oder besetzt. Keiner kann hier überleben, wenn er nicht einer Gang angehört. Im Warriors-Streifen wundert man sich fast schon, daß überhaupt noch die S- und U-Bahnen fahren. Sie dienen nur noch der Flucht und Verfolgung.

John Carpenters Escape from New York (Die Klapperschlange) aus dem Jahre 1981 übertrifft den ohnehin großen Kult-Faktor der Reihe noch: Manhattan ist hier bereits zur No-Go-Area disqualifiziert, ein offizielles Gefängnis ohne Wachen, Sperrgebiet. Verbrecher werden reingeschafft, raus kommt keiner mehr. Die gesamte Umgebung ist vermint, überwacht und unter Polizeikontrolle. Innen herrschen eigene Regeln, die Gangs haben sich auch hier zu organisieren gewußt. Es wäre allerdings kein Carpenter-Streifen, wenn nicht ein paar Zombie-Verschnitte von Kriminellen unterirdisch ihr Unwesen treiben dürften. Kurt Russell kommt es dabei zu, den einsamen Helden zu geben, der den ­ dummerweise über dem Sperrgebiet abgestürzten ­ Präsidenten retten darf. So wunderten sich auch in der abschließenden Diskussionsveranstaltung Claudia Lensen, Diedrich Diedrichsen und Harun Farocki gemeinsam mit Antje Ehmann über die am eindringlichsten geratene reali-stische Stadtschilderung dieses vermeintlichen Science-Fiction-Streifens.

Die andere folgte dann am Abend mit Coppolas Rumble Fish von 1983. Francis Ford Coppola hat hier einen äußerst schrägen Abgesang auf den alten Fünfziger-Jahre-Gang-Kult fabriziert. Auch in Escape from New York verfügt die verfallende Stadt über ein derart unglaubliches Anziehungspotential, daß man sich ob ihrer phantasmatischen Erscheinung im Kino sprachlos fühlt. In den Carpenterschen Totalen über den im Mondlicht funkelnden Hudson River wirkt sie fast wie eine geheimnisvolle Landschaft, eine Skyline der Erinnerung an ein altes New York. Daß am Ende des Films das falsche Tonband nach der Präsidentenrettung in die ganze Nation über den Äther getragen wird und plötzlich Jazz über den Horizont schallt, scheint fast wie eine zu weiche Reminiszenz an eine vergangene Stadt. Doch man kann es Carpenter nicht verübeln: Old New York und sämtliche verblühende Städte des vergangenen Jahrhunderts könnten mittlerweile eine solche Kassette nötig haben. Wir sehen uns in der Shrinking-Cities-Ausstellung. Ach ja, und im Spätkino des Volkspalasts.

Tina Kaiser

 
 
 
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