Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

„Die Deutschen wurden entnazifiziert, aber nicht entkolonialisiert"

Ein Gespräch mit dem Dokumentarfilmer Martin Baer

„Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero: Die Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet, gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot-Rohr (Geschütz) dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Kaisers, von Trotha."

(Aus dem Vernichtungsbefehl des obersten kaiserlichen Soldaten in Deutsch-Südwestafrika vom 2. Oktober 1904)

Die Niederschlagung des Herero-Aufstandes gilt als der grausamste aller Feldzüge, die das Kaiserreich je in seinen Kolonien geführt hat. Die Zahl der Opfer liegt bei 100000 Menschen, fast 80 Prozent der zu jener Zeit lebenden Herero. Historiker werten heute die Ereignisse als den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Einer der wenigen Deutschen, die sich mit jenen Ereignissen des Kolonialkriegs kritisch auseinandersetzen, ist der Filmemacher Martin Baer. Sein Dokumentarfilm Weiße Geister ist eine erstaunlich subjektive Betrachtung des Kolonialkriegs. Baer begibt sich mit seinem Protagonisten, dem Herero Israel Kaunatjike, auf eine gemeinsame Reise nach Namibia. Kaunatjike hat gegen die Apartheid in Namibia gekämpft und lebt seit vielen Jahren im deutschen Exil. Er ist noch immer politisch aktiv. Während der Drehreisen kommt Kaunatjike einem lange gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur: Er hat zwei deutsche Großväter.

Auch Baers Familienbaum hat einen Ableger in Namibia. Das führt im Film zu einigen schwierigen Fragen, denen Baer nicht ausweicht. Entstanden ist ein mutiges und an einigen Stellen sehr überraschendes „historisches Roadmovie". scheinschlag sprach mit dem Regisseur.

Welche Rolle spielt der Vernichtungskrieg gegen die Herero heute in Deutschland?

Was noch in den letzten Jahrzehnten in Deutschland eigentlich nur Historiker kümmerte, hat nicht zuletzt durch die öffentlichkeitswirksame Kampagne der Herero für eine Entschuldigung und ihre Entschädigungsklage in diesem Jahr zu internationaler Aufmerksamkeit für das Thema „Kolonialkrieg 1904" geführt. Als die französisch- und besonders die englischsprachige Presse vor etwa drei Jahren begann, über die Anliegen der Herero zu berichten, war keineswegs klar, daß die deutsche Öffentlichkeit davon Notiz nehmen würde. Aber in diesem Jahr ist das geschehen. Das hat wohl dazu beigetragen, daß die Regierung sich vor kurzem zu einer offiziellen Entschuldigung für die in deutschem Namen begangenen Verbrechen durchgerungen hat.

Woher kommt Ihr Interesse für die deutsche Kolonialgeschichte?

Daß die deutsche Kolonialvergangenheit hierzulande bisher zu wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, ist allgemein bekannt und wird immer wieder beklagt. Dabei übersieht man aber leicht, daß die Erinnerung an die Kolonien und insbesondere an so einschneidende Ereignisse wie den Krieg gegen Herero und Nama in Deutschland im Laufe der letzten 100 Jahre immer wieder und teilweise sehr intensiv belebt wurde. Schon während des Krieges gegen die Herero verarbeitete man die Ereignisse in autobiographischen Erinnerungen, in Romanen, in Kinder- und Jugendbüchern. Nach dem Verlust der Kolonien gab es eine Flut von Veröffentlichungen. Manches davon wirkt sozusagen unterhalb des bewußten Erinnerns bis heute nach. Viele werden das Lied „Heiß brennt die Äquatorsonne" kennen, es wird bis heute auf Schulausflügen gesungen ­ und im Text des Liedes kommen die Ovambo vor (die in Südwestafrika leben) und die „Tanganjika-Sümpfe" (eine Anspielung auf das ehemalige Deutsch-Ostafrika). Aber wer weiß das heute noch?

Zwar hat Deutschland seine Kolonien vor allen anderen Kolonialmächten verloren, nämlich 1918, aber gerade deswegen konnten die Deutschen es vermeiden, sich jemals kritisch mit dem Kolonialismus zu befassen. Die schmerzlichen und häufig blutigen und langwierigen Entkolonialisierungsprozesse, die Großbritannien, Frankreich, Belgien und Portugal durchmachen mußten, blieben den Deutschen erspart. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufarbeitung des Holocaust den Rest der Geschichte zur Nebensache machte, wurde die Erinnerung an die deutschen Kolonien zu einem vollig verkürzten und vereinfachten Teil einer „guten alten Zeit" vor 1914. Kurz: Die Deutschen wurden entnazifiziert, aber nicht entkolonialisiert.

Wie ist der Film entstanden?

Je mehr ich mich mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands beschäftigte, desto mehr habe ich auch über die besonders dramatischen und für die betroffenen afrikanischen Völker verheerenden Kriege erfahren, die nun genau 100 Jahre zurückliegen. Im nächsten Jahr jährt sich der Beginn des sogenannten Maji-Maji-Aufstandes, der in Ostafrika etwa einer Viertel Million Menschen das Leben kostete. Solche Jahrestage sind ein guter Anlaß, einer größeren Öffentlichkeit etwas über diese Geschichte zu erzählen.

Warum nahmen Sie Israel Kaunatjike mit auf die Reise?

Um diese Geschichte von vor 100 Jahren auf eine Art zu erzählen, die zugleich etwas über das Verhältnis von Deutschen und Namibiern heute und über ihren Umgang mit der Erinnerung sagt, habe ich jemanden gesucht, der auf doppelte Weise mit der Vergangenheit zu tun hat. Israel Kaunatjike ist ein Berliner aus Namibia, ein Herero, der in Deutschland lebt.

Daß Israel auch aufgrund seiner persönlichen Familiengeschichte mit den Ereignissen zu tun hat, habe ich tatsächlich erst während der Reise erfahren. Er wußte natürlich schon, daß er weiße, nämlich deutsche Großväter hat. Aber erst die Dreharbeiten haben ihn motiviert und ermutigt, diesem Teil seiner eigenen Geschichte nachzuspüren. Man kann nachvollziehen, daß diese Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte Israel keineswegs leicht fiel. Er wußte ja auch nicht, was er alles zutageförden würde.

Die Herero in Ihrem Film reden erstaunlich gelassen über die Vergangenheit.

Es gibt verschiedene Arten, Geschichte zu bewahren: Man kann Denkmäler bauen, man kann historische Werke schreiben und man kann Geschichte erzählen. Letzteres, die mündliche Überlieferung, ist in vielen afrikanischen Kulturen sehr wichtig. Nachdem vier Fünftel der Herero im Krieg, auf der Flucht oder in den deutschen Lagern umgekommen waren, wurde die mündliche Überlieferung wohl noch wichtiger. Nur durch sie konnte das Volk der Herero hoffen, nicht völlig unterzugehen. Die eigene Geschichte zu bewahren und dabei auch die große Katastrophe von 1904 zu beschreiben, war Teil des Widerstands gegen die koloniale Politik. Die Deutschen versuchten systematisch, die Herero-Kultur auszulöschen: Sogar der Besitz schriftlicher Aufzeichnungen war den überlebenden Herero verboten.

Die Herero fordern seit Jahren eine finanzielle Entschädigung für die kolonialen Verbrechen. Das tun sie auch in Ihrem Film. Gibt es Aussicht auf Erfolg?

Teilweise hatten die Herero schon Erfolg, indem Deutschland und die deutsche Öffentlichkeit ihren Forderungen endlich Gehör schenkt. Für eine juristische „Lösung" des Falles ­ sollte es jemals eine geben ­ werden Gerichte viele Jahre brauchen. Es ist bezeichnend, daß es in diesem Jahr immer wieder widersprüchliche Meldungen über ein angebliches Ende des Prozesses, eine Rücknahme der Klage usw. gab. Ich kann nur vermuten, daß diese Art von Wiedergutmachungsprozessen so lange dauern, solange es zum einen weitgehend verdrängte und geleugnete Kolonialverbrechen und zum anderen eine riesige Ungerechtigkeit gibt, was die Verteilung des Wohlstandes in unserer heutigen Welt angeht. Viele Menschen in der Welt fühlen sich zu recht doppelt gedemütigt: Sie sind die Nachkommen der versklavten oder hingemordeten Opfer jener Ausbeutung, auf welcher der Reichtum des Nordens begründet ist. Und die Nachkommen der Täter weigern sich bis heute, die Geschichte wahrzunehmen, von Entschuldigung ganz zu schweigen.

Im Film kommen auch deutschstämmige Farmer zu Wort. Wie ist deren Haltung zum Hererokrieg?

Es wäre zu einfach, allen „deutschstämmigen" Namibiern (und nicht wenige bezeichnen sich ja mit Stolz als Namibier, manche haben aktiv am Kampf für die Befreiung teilgenommen) pauschal vorzuwerfen, daß sie die historischen Ereignisse nicht sehen wollen oder die Forderungen der Herero nicht ernstnehmen würden. Innerhalb der Gruppe der deutschsprachigen Namibier gibt es ein weites Spektrum von Ansichten. Für die Deutsch-Namibier ist die Sache natürlich schwieriger als für uns Deutsche hier, denn sie haben etwas zu verlieren. Das macht sie einerseits mißtrauisch und vorsichtig, es führt aber andererseits auch zu der Einsicht, daß man sich der Diskussion mit den Herero nicht entziehen kann.

Warum haben Sie die spontane Frage einiger Herero nach persönlicher Verantwortung und Wiedergutmachung nicht aus dem Film genommen?

Das ist mein dritter Film zum Thema „Deutschland/Deutsche und Afrika/Afrikaner". Es war ein guter Moment, als die beiden Namibier die Interview-Situation umdrehten und anfingen, mir Fragen zu stellen. Auch wenn es mir etwas peinlich ist, mich selbst im Film zu sehen, wie ich verwirrt reagiere und mich um eine klare Antwort herumdrücken will: Es ist wunderbar, wenn diese Rollenverteilung „Ich komme nach Afrika und filme euch und zeige den Deutschen, was ihr denkt" einmal aufgebrochen wird.

Wieso erscheinen die Herero zu ihren Gedenkfeiern in den Uniformen ihrer ehemaligen Feinde?

„Wenn Du die Kleidung des Feindes trägst, machst Du Dir seine Kraft zueigen" ­ sagen die Herero, und das ist ein Teil der Erklärung für den eigenartigen Brauch. Die Herero haben schon im 19. Jahrhundert angefangen, militärisches Zeremoniell, Drill und Uniformen von den Europäern zu übernehmen. Daß daraus nach 1915 eine regelrechte Tradition, die sogenannte Bewegung der Truppenspieler wurde, ist ein sehr interessantes Phänomen und hat wohl verschiedene Ursachen. Es ist gar nicht so einfach mit den Uniformen, denn es sind keineswegs originale deutsche Schutztruppen-Uniformen. Die Herero haben Elemente der britischen und südafrikanischen Truppen verarbeitet und ganz Eigenes hinzugefügt.

Wieso stehen heute in Namibia noch immer die alten deutschen Kolonialdenkmäler?

Israel Kaunatjike sagt dazu: Wir sind viel toleranter als die Europäer. Ich glaube, er hat recht. Die Namibier, insbesondere die Herero, sind bereit, die blutige Vergangenheit als Teil einer gemeinsamen Geschichte zu begreifen.

Wie geht es filmisch weiter? Bleibt Afrika ein Thema?

Natürlich interessiert Afrika mich sehr. Ob ich allerdings einen Film über den erwähnten Maji-Maji-Aufstand machen werde, bezweifele ich jetzt eher. Es wäre nicht so gut, wenn ich meine Sichtweise auf das Thema „Kolonialgeschichte" zu oft wiederhole. Ich würde lieber andere ermutigen, sich mit dem Thema zu befassen, und selber etwas über das Hier-und-Jetzt machen. „Hier" könnte heißen: Afrikaner in Deutschland, afrikanische Deutsche, aus Afrika stammende Deutsche.

Interview: Frank Willmann

Der Dokumentarfilm „Weiße Geister" von Martin Baer läuft am 10. November um 20 Uhr im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 101, Tiergarten, am Samstag, 20. November um 15.00 Uhr im Dokument KinoM und am 24.November um 17.30 Uhr im Jüdischen Museum.

 
 
 
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