Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

„Über dich wird hier berichtet!"

Wolfgang Kils neues Buch Luxus der Leere

Der Osten Deutschlands blieb nach dem 89er-Umbruch, was die DDR zuvor schon war: eine Auswanderungsgesellschaft; nichts Neues sofern, auf den ersten Blick. Erst dem zweiten erschließen sich die Differenzen. Wirtschaftliche Motive spielten in den Exodus bereits zu DDR-Zeiten hinein, nur waren sie politisch gleichsam eingehüllt, so daß den Ausreisern die „Freiheit" subjektiv deutlicher vor Augen stand als der oftmals mitgemeinte „Wohlstand". Aus politischen Gründen „verreiste" nach der Wende niemand mehr, flüchtige Funktionsträger des Systems ausgenommen. Bürgerliche Rechte waren errungen, und wenn die neue Freiheit ihr Versprechen trotzdem nicht hielt, so lag das an ihrem fehlenden ökonomischen Fundament. „Grundlos" frei, suchten und fanden nach 1989 hunderttausende Ostdeutsche sozialen Halt vornehmlich im Westen der Republik. Der Einigungsprozeß war ökonomisch gescheitert, von Anbeginn, und man sollte meinen, Phantasie und Intellekt hätten sich seither mit nichts anderem beschäftigt als mit möglichen Auswegen aus der Krise.

Stattdessen verweigerten sie sich bereits den puren Tatsachen, übte sich namentlich der professionelle Sachverstand von Politikern und Experten in Vertröstungen, durch die die eigene Ratlosigkeit immer schutzloser hindurchschimmerte: „Morgen gibt's Fasan! Übermorgen ganz bestimmt!" Wie läßt sich diese Realitätsablehnung verstehen?

Das Nächstliegende, das Wolfgang Kil in seinem jüngsten Buch dazu einfällt, ist die „tiefsitzende Abneigung gegen Abwärtsbewegungen". Und in der Tat: Regierende wie Regierte verbissen sich im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte dermaßen in die Illusion „immerwährender Prosperität", daß in ihrer aller Vorstellung „Zukunft" und „Wachstum" ein untrennbares Paar bildeten. Das gilt in besonderem Maße für die Vertreter jener Berufsgruppen, die der Autor in seiner Darstellung im doppelten Sinn des Wortes „vorführt": für Architekten, Städte- und Landschaftsplaner, Baustadträte, Stadtentwickler in öffentlichem Auftrag. „Gestalten", im Selbstverständnis dieser Spezies, hieß „Aufbau", „Ausbau", „Verdichtung" und „Erweiterung". Demgegenüber verkauft sich „Schwund" politisch nicht nur schlecht, er kratzt am Ethos, schürt Zweifel an der eigenen Bestimmung. Aller Anfang ist schwer; noch schwerer ist der Abschied.

Aber vielleicht war das alles nur ein Albtraum. Vielleicht griff die Erschütterung der erprobten Denkmittel gar nicht so tief wie zunächst befürchtet, erfaßte sie nur die Oberfläche, war es ­ letztlich ­ die Besonderheit des Ostens, Ostdeutschlands, die Verstand und Einbildungskraft verunsicherte. Hatte man es mit einer Anomalie zu tun, bestand kein Anlaß zur Verzweiflung, dann kam, eines Tages, alles wieder in die Ordnung. Krise der ostdeutschen Städte? ­ Gemach! Flucht aus der Platte, Abwanderung ins städtische Umland, Geburtenknick gleich nach dem Umschwung, Deindustrialisierung der Wirtschaft: So lauteten die Fakten! Verweisen sie nicht sämtlich auf Faktoren, die ohne weiteres nicht verallgemeinert werden konnten, auf Nachholprozesse, Abstürze, die sich größtenteils aus der DDR-Vergangenheit erklärten?

Kil spürt diesen Ausflüchten unerbittlich nach, demaskiert sie mit wachsendem Ingrimm. So wie Karl Marx im Vorwort zur ersten Auflage seines Kapital den deutschen Leser ermahnte, die in dem Werk dargestellten englischen Zustände getrost auf sich selbst, auf die eigene Zukunft zu beziehen, verstattet er dem westdeutschen Leser keine idyllische Atempause vor den ostdeutschen Verhältnissen, hält auch er es (unbesehen) mit Horaz: „De te fabula narratur!" ­ Über dich wird hier berichtet!

Die kommode Berufung auf die vermeintliche Besonderheit Ostdeutschlands erweist sich mehr und mehr als eine Falle für das Denken. Alle wesentlichen Gründe für das Schrumpfen urbanen (auch ländlichen) Lebens im Beitrittsgebiet sind in Wahrheit allgemeine. Die Ost-West-Wanderung nach dem Mauerfall: Teil einer weit umfassenderen Wanderungsbewegung infolge globaler Entgrenzung. Die Produktion „überflüssiger Menschen" relativ zur Aufnahmefähigkeit der nationalen „Arbeitsmärkte" durch rastlos steigende Produktivität, revolutionierte Produktions- und Verflechtungsweisen: Begleitererscheinung des gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozesses in sämtlichen wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten seit den frühen siebziger Jahren. Rückläufige (einheimische) Population durch negatives Geburtensaldo: Konsequenz ökonomischen Fortschritts sowie sich verdüsternder Zukunftsaussichten für den potentiellen Nachwuchs überall in den Wohlstandsmetropolen dieser Welt, längst an dem Punkt angelangt, jenseits dessen Einwanderungsschübe die Verluste nicht mehr kompensieren (mit Ausnahme der USA). Ostdeutschland liefert in all dem nur eine scharfe Probe aufs Exempel. Kil ist allzu berechtigt, aus der ostdeutschen Entwicklung seit 1989/90 ein „allgemeines Transformationsmuster" herauszulesen, eine Entwicklung hin zur Post-Arbeitsgesellschaft, zu „eine(r) Zukunft jenseits der herkömmlichen (Industrie-)Arbeit".

Es ist bezeichnend, in welch armseliger Absicht die Verallgemeinerungsfähigkeit der ostdeutschen Erfahrung schließlich doch politisch durchschlug. Als die Stadt- und Landflucht der Ostdeutschen ein Ausmaß erreicht hatte, das ihre Siedlungen weiträumig leerzufegen drohte, verständigten sich Politik und Wohnungsunternehmen in buchstäblich letzter Stunde auf Programme zur Stabilisierung des Wohnungsmarktes. Im Vordergrund standen die Effizienznöte vor allem der großen Vermieter, wobei man sich im Zweifelsfall und in geteiltem Ekel vor der sozialistischen Moderne zum Abriß der Plattenbauten entschloß. Kil schildert dieses durch und durch schäbige Kapitel der politischen Bewußtwerdung mit kaum verhaltenem Zorn.

Freilich: Auch engagierte Politik mit Weitblick sähe, sieht sich einer ungeheueren Herausforderung konfrontiert: „Wenn die Überlebensinteressen der Menschen und die Existenzbedingungen der historisch überlieferten Stadt nicht mehr zur Deckung kommen, muß die Stadt auf neue Weise eine Begründung finden." Hier wechselt der Fokus des Verfassers: weg vom Staat, seinen Gliederungen und Funktionsträgern, und hin zur Bürgerschaft, zur eingesessenen wie neu sich in der Brache niederlassenden, zum Einfallsreichtum von Abenteurern, Pionieren, zum Umdenken bei Planern und Gestaltern. Hier wird das Buch „romantisch", sehnsuchtsvoll, glücklicherweise abgefangen, ganz zuletzt, von einem „Funken Ironie".

Denn es wird anders kommen, vorerst. Bislang trotzte die Lohnarbeitsgesellschaft noch jeder fundamentalen Infragestellung. Und ehe das Beben nicht ins Zentrum vordringt, dürfen die Experimentatoren einer neuen Lebensweise auf keine Gnade, schon gar nicht auf Unterstützung hoffen, auf Ermutigung. Die Eltern, die Kils Phantasien in Freiheit setzen können, müssen noch geboren werden, im direkten wie im anspielenden Bezug dieser Formulierung. Die verläßlichsten Bürgen des Neuen heißen Unordnung, Krach, Vertiefung und Ausweitung der Krise bis unmittelbar an den Rand der endgültigen Erschöpfung, des Zusammenbruchs des Traums von der Wiederkehr der Vollerwerbsgesellschaft und über ihn hinaus.

Wolfgang Engler

Wolfgang Kil: Luxus der Leere. Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt. Verlag Müller & Busmann KG, Wuppertal 2004. 25 Euro

 
 
 
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