Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Als die Bürger den Ungehorsam entdeckten

Ein Sammelband mit Geschichten aus dem letzten Jahr der DDR

Es brodelte im ganzen Land. Im Sommer 1989 flohen tausende DDR-Bürger in den Westen. Die DDR stand unwiderruflich am Scheideweg. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Das Volk – im Wir-Gefühl vereint – zwang die greisen Regierenden zum Rücktritt, zu Maueröffnung, D-Mark und Anschluß an die Bundesrepublik und wartet seitdem vergeblich auf blühende Landschaften.

Die kleinen Geschichten in dieser Geschichte sind dagegen weniger bekannt. In der Zeit, als ein Gesellschaftssystem auf den Straßen mit Füßen getreten wurde, herrschte vielerorts eine faktische Rechtlosigkeit. Diejenigen, die in der DDR blieben oder nach der Öffnung der innerdeutschen Grenzen zurückkehrten, konnten das große Chaos ausleben. Das wunderbare Jahr der Anarchie nennen die Autoren eines jetzt im Christoph Links Verlag erschienenen Buches die Zeit, in der all das möglich wurde, wovon alle Freunde zivilen Ungehorsams träumen: Bezirksregierungen absetzen, Landsitze besetzen, Militärbefehle ignorieren oder Straßen blockieren und dabei von staatlichen Behörden auch noch unterstützt werden. In vielen kleinen Geschichten erzählen die Autoren Sybille Nitsche und Antje Taffelt die kleinen Heldentaten ganz normaler Bürger, die das üben, was Stefan Heym im November 1989 den „aufrechten Gang" nannte.

Der Polizistensohn Günther Sattler verbreitet auf einer Schreibmaschine geschriebene Aufrufe zu illegalen Demonstrationen ­ Kopiergeräte gibt es nicht. Die Einwohner von Rüterberg ­ gelegen im Sperrgebiet zum Westen ­ rufen einen Tag vor dem Mauerfall die Republik aus und ernennen die vor dem Dorf Wache stehenden Grenzer kurzerhand zu Ehrenbürgern. Ein CDU-Kreisvorsitzender verhandelt im Januar 1990 ohne Rechtsgrundlage mit der niedersächsischen Landesregierung über den Anschluß des Eichsfeldes an das westdeutsche Nachbar-Bundesland. Neben der Journalistin Sybille Nitsche und der Lektorin Antje Taffelt steuerten auch andere Autoren Beiträge bei: Christoph Links erzählt vom Aufbegehren im staatlichen Rundfunk, das zur Bildung von Rundfunkräten führte ­ die nichts mit den Namensvettern in heutigen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten gemein haben. Volly Tanners Geschichte über den „Ersten Matrosen- und Soldatenrat" in Rostock ist die am schönsten geschriebene.

Aus heutiger Sicht wirken die Geschichten manchmal lächerlich, teilweise nur komisch. Eine Lehrerin und SED-Genossin ignoriert den „Befehl" ihres Parteisekretärs ­ eine in heutigen Parteien wohl übliche Verhaltensweise. Für die treue Genossin jedoch die revolutionärste Tat in ihrem bisherigen Leben. Das Anarchistische der Geschehnisse ist für nachgeborene oder westdeutsche Leser wohl schwieriger nachvollziehbar. Wo steckt wohl das revolutionäre Element, wenn im Sommer 1989 Menschen auf einer künstlichen Insel in der Müritz ­ in Sichtweite zum Sommerhaus des Ministerpräsidenten ­ ein kleines Südseeparadies errichten?

Nach der Lektüre der Kurzgeschichten fällt auf, daß der Buchtitel die Wirklichkeit verzerrt. Einige der beschriebenen Ereignisse fanden in einer Zeit statt, in der keineswegs Anarchie ­ also Abwesenheit des Staates ­ herrschte. Nur Zufall und Dummheit der Staatsmacht verhinderten häufig schlimme Folgen. Aber klar wird auch, daß eine Geschichtsschreibung, die das DDR-Ende mit Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderswo erklärt, zu kurz greift. Was umgekehrt, übertragen auf die heutige Hartz-Aufregung bedeutet, daß das Aufleben der Montagsdemonstrationen im Osten Deutschlands allein keine Veränderung bringen wird. Jedem guten Unternehmensberater ist bekannt, daß Veränderungen Phantasie benötigen. 1989/90 war davon viel vorhanden.

Steffen Pachali

Christoph Links, Sybille Nitsche, Antje Taffelt (Hg.): Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90. Christoph Links Verlag, Berlin 2004. 14,90 Euro.

 
 
 
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