Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Landschaften und Zustände

Angela Schanelecs filmische Psychogeographie

Sophie scheint mitten auf der Straße zu stehen. Sie fotografiert in die Tiefe dieser Straße hinein, den Kamerablick frontal auf die auf sie zukommenden Autos gerichtet, in die Fluchtlinien einer Fahrbahn hinein. So wie alle Einstellungen in den Filmen Angela Schanelecs ist auch diese relativ lang. Sie konfrontiert mit Dauer, mit Langsamkeit, mit stillen Momenten. Und das inmitten schneller städtischer Situationen. Allein in dieser Länge der Einstellung baut sich beim Zuschauer eine Angst um Sophie auf. Es läßt sich nicht sagen, ob sie noch nahe genug am Straßenrand oder schon zu weit auf der Straße steht. Man ist irritiert. Doch sie steht da, bleibt genau dort, wo sie ist – und fotografiert mit einer unglaublich konzentrierten Ruhe weiter. Langsam beginnt man ihr dann doch zu vertrauen.

So wie in dieser Einstellung scheint es Sophie fast den ganzen Film über zu gehen. Vielleicht hat sie sich schon viel zu weit hineinbegeben, nach Marseille, in eine Barsituation, in eine Szene in einer Küche oder sonst in irgendetwas. Sie bleibt dann auch erst mal, überlegt und schaut ruhig vor sich hin. Manchmal fotografiert sie, aber nicht immer.

Wie ist es, in einer völlig unbekannten Stadt zu leben? Ohne jemanden zu kennen? Ganz allein zu sein? Wie Sophie in Marseille. Wann könnte der Punkt erreicht sein, an dem man angekommen ist? Wie kann man sich all den unbekannten Straßen und Plätzen, den Bars und Alltagsgeschäften nähern? Früchte essen, ein Auto leihen, Kaffee trinken, am Fenster stehen ­ das sind nur ein paar von unzähligen Schanelecschen Möglichkeiten des Registrierens urbaner Landschaften und Zustände.

Angela Schanelec hat ein Gespür für Details im unaufgeregten Alltag. Ihr Blick kann endlos ruhen und warten. Und sie hat das Glück, meist Schauspieler zu finden, die dies zu tragen wissen. Nach Plätze in Städten und Mein langsames Leben läuft nun ihr neuer Kinofilm Marseille an. Wieder eine Arbeit, die nach außen schauen will, sich von einer Stadt und ihrem Alltag inspirieren läßt ­ ein ganz leiser Film, der beobachtet, ohne sich heranzudrängen, der durch Straßen schlendert, mit Sophie: Man könnte auch von filmischer Psychogeographie sprechen. Sie läßt sich von einer Stadt berühren und leiten. Es geht weder um eine Geschichte, noch um Handlungen oder ein sogenanntes Hauptereignis. Falls es so etwas gibt, wird es zumindest nicht von Schanelec in Szene gesetzt. Sie will stattdessen Zustände, Folgen und Reaktionen zeigen. Die fehlenden Handlungsglieder darf der Zuschauer nach Gusto selbst zusammenfügen, wenn er will.

Bei Schanelec wird jedenfalls deutlich, daß jeder ­ aber auch wirklich jeder ­ seinen eigenen Film sieht. Mehr geht nicht, und das scheint auch genug. Beruhigend ist Marseille allemal, auch wenn die gefilmte Stadt selbst als wuchernd und von Schanelec als wirr bezeichnet wird. Denn sie hat ­ und darauf wird es am Ende ankommen ­ das Meer.

Am Schluß wird Sophie überfallen und ausgeraubt. Auf die Frage, ob das nicht ein schreckliches Ende sei, antwortet Schanelec in einem Interview: „Sie ist am Strand, sie trägt ein gelbes Kleid, sie sieht das Meer. Nein, ich finde das Ende sehr schön. Sie ist ein wenig erlöst von sich selbst."

Tina Kaiser

Der Film „Marseille" von Angela Schanelec läuft ab dem 23. September in diversen Kinos

 
 
 
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