Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1904

30. September bis 27. Oktober

Die Verwaltung der Berliner Arbeiter-Kolonie und besonders die Kolonisten selbst erfahren täglich schmerzlich, mit wie vielen Irrtümern und Vorurteilen ihre Einrichtung in der Öffentlichkeit verbunden ist. Bewirbt sich ein Kolonist, der sich während eines völlig freiwilligen Kolonie-Aufenthaltes von mindestens drei Monaten brav und fleißig gehalten hat und nun wieder glaubt, auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen, um eine geeignete, bescheidene Stellung, so erfährt er allzu oft die ungerechte Abweisung: „Wir wußten nicht, daß Sie in der Arbeiter-Kolonie waren, nun können wir Sie nicht gebrauchen! Fertig! Punktum! Sie können gehen!" Wohin denn? Eine natürliche Folge hiervon ist, daß die Kolonisten sich schämen, solche gewesen zu sein, und oft die Leitung um ein Abgangszeugnis bitten, in dem dieser Punkt unerwähnt bleibt und natürlich auch keine Lust mehr haben, im Notfall wiederzukommen.

Was aber sind es denn für Leute, die in der Kolonie Aufnahme erbitten und finden? Die schlechtesten wirklich nicht! Es sind durchschnittliche Söhne unseres Vaterlandes, jeden Bekenntnisses, aus allerlei Ständen, die, mit oder ohne Schuld stellen- und verdienstlos, teilweise durch Alkohol körperlich und geistig geschwächt, ohne Halt auf der Straße liegen und sich schließlich mit einem Rest von Energie zurufen: „Halt! Bis hierher und nicht weiter! Lieber arbeiten als betteln! Nicht in die Tiefe, sondern wieder in die Höhe!" Für solche Elemente, deren sich unter den nach Tausenden zählenden Arbeitslosen Berlins noch viele befinden, hat die Arbeiter-Kolonie Herz und Tür weit offen, denn sie ist keineswegs eine Zwangs- oder Strafanstalt, sondern eine Frei- und Zufluchtsstätte fürsorgender Barmherzigkeit und beweist unseren zeitweilig gesunkenen Brüdern durch die Tat, daß die Liebe auch für sie nimmer aufhört!

Unter die Vergangenheit der Kolonisten wird im Anstaltsleben ein Strich gezogen, ein jeder mit gleicher Freundlichkeit und im Notfall mit ernster Mahnung und Warnung, ja unter Umständen mit Entlassung behandelt. Den Kolonisten wird für ihre Arbeit völlig freier Unterhalt, kräftige Kost und ein gutes, gesundes Nachtlager, ärztliche Behandlung einschließlich Apotheke, auch mancherlei Unterhaltung, z.B. durch den Sängerchor, in Bibliothek und Speisesaal, dazu bescheidener Verdienst gewährt. In den verschiedenen großen Handarbeits-Betrieben ist ein frisches, fröhliches Schaffen nach genauer Tageseinteilung, und jedem wird womöglich die Art von Arbeit zugewiesen, für die er am meisten befähigt ist. Mag dabei die zarte, nur des Schreibens gewohnte Hand anfänglich auch Schwielen aufweisen und der Rükken wehe tun, das ist für Leib und Seele gesund, und Schweiß treibt den Alkohol aus dem Körper heraus.

Nur im Notfall wird in der nach Bodelschwinghschem System eingerichteten Anstalt ein strenges Wort gebraucht, und das durchweg anständige, verträgliche Benehmen der Leute ist höchst anerkennenswert. Es ist erfreulich zu sehen, wie durch Alkohol entstellte Gesichter sich unter Arbeit und Hausordnung, bei dieser sind die täglichen, kurzen Morgen- und Abendandachten nicht zu vergessen, zu ihrem Vorteil verändern, der Körper sich kräftigt, der Mut und Willen wächst und die Lebensfreude wiederkehrt.

Alkoholische Getränke dürfen nicht in die Anstalt hinein, innerhalb der Kolonie besteht ein Blaukreuz-Verein mit 38 Mitgliedern. Dieser völlig freiwillige Entschluß zur Abstinenz und Beitritt in den Verein ist für die meisten Kolonisten ein hohen Mut und festen Willen fordernder Schritt nach aufwärts, bei dem die Witzeleien gegen sie den Blaukreuzlern nicht entgehen.

Die Arbeiter-Kolonie ist eine Wohlfahrtseinrichtung für alle Bürger Berlins. Sie hat in den 21 Jahren ihres Bestehens 12000 Arbeitslose und Elende aller Art an 900000 Tagen gepflegt. Das entspricht einem wirtschaftlichen Effekt von etwa 2,5 Millionen Mark. Dieser Betrag hat die Bettlerplage ganz bedeutend vermindert und ist der Bürgerschaft erspart. Doch abgesehen von den Erträgen der jährlichen Hauskollekte in Berlin und Charlottenburg, den schwankenden Jahresbeiträgen der etwa 6000 Mitglieder des „Vereins für die Berliner Arbeiter-Kolonie" erhält die Kolonie fast nichts und muß noch jährlich 15000 Mark Zinsen für Hypothekenschulden zahlen.

Falko Hennig

Am 27. Oktober 2004, 20 Uhr, präsentiert Falko Hennig im Kaffee Burger den Themenabend über den Berlinfotografen Max Missmann, Gast-Experte ist sein Enkel Dr. Michael Rutschky. Mehr unter www.Falko-Hennig.de

Vier Bilder aus einem Trinkerleben: Archiv Hennig

Es ist erfreulich zu sehen, wie durch Alkohol entstellte Gesichter sich zu ihrem Vorteil verändern und die Lebensfreude wiederkehrt.

 
 
 
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