Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Boa constrictor

„Wir sind die Schlange", sagt einer im Dunkeln. Es klingt säuerlich. Dabei heißt es doch: „Wir sind das Volk" und müßte frech klingen. Aber vielleicht hat er recht, es können nicht alle gleichzeitig das Volk sein, man muß sich hinten anstellen. Wir tun alle einen Schritt. Es geht voran. Es gibt zwei Schlangen: die eine, die die Schlange ist, und die andere, die die Schlange beobachtet, vor allem den Kopf, um zu sehen, was sich dort tut und wie oft, und um auszurechnen, wann man wohl am Kopf wäre, wenn man sich jetzt am Schwanz einreiht. Bei manchen geht die Rechnung nicht auf und sie reihen sich nicht ein, wollen weder Volk noch Schlange sein, sondern gehen lieber in die Tadschikische Teestube und trinken Rauchtee mit Moskovskaja. Es gibt also strenggenommen nur eine Schlange, und es gibt ja auch nur ein Volk, nämlich uns. Und deshalb soll es wohl schicklich sein und der Sache dienlich, Volkspalast zu nennen, was einmal Palast der Republik hieß. „Wartet ab", denkt einer im Dunkeln. „Wer lieber ein Volk als eine Republik sein will, bekommt am Ende noch ein Schloß geschenkt." Oder Schlimmeres. Eine Boa constrictor zum Beispiel, von der man weiß, daß sie den Kopf so weit aufreißen kann, daß man bequem ein Lamm darin parken kann. Übrigbleiben wird wahrscheinlich nicht Volk und schon gar nicht Republik, sondern am Ende nur Palast. „Gehen wir in den Palast", wird es heißen. Man hakt sich unter und geht. Nichts ist schöner als ein schöner handlicher Kompromiß mit Klettverschluß und Sichtfenster. Wer so einen Palast hat, wäre maßlos, wollte er noch ein Schloß obendrein. Wie sich das auch anhört: „Volksschloß", oder noch schlimmer: „Schloß der Republik". Das fügt sich nicht. Das will nicht. „Entschuldigung, wir sind die Schlange." Hoffentlich hält er, was wir uns hier versprechen.

Tobias Hering, 2. September, Gastautor

Being the Future

Der Palast ist ein symbolischer Ort. Die Mitte. Ein Phantomschmerz, wo die Mitte fehlt, ein Schmerz, gefühlt vom Volk. So schrieben die Feuilletonisten, als sie das Schloß hatten herbeischreiben wollen. Jetzt hat das Volk seinen Palast bekommen. Zwar keinen Palast der Republik, doch wenigstens das nackte Skelett eines Volkspalasts. Aber weiß es das auch? Weiß es auch, was das soll? Und wer ist das Volk? Der heutige Abend im Palast heißt laut Programm „Being the Future".

Drinnen, im Volkspalast, ist es leer. Eine beleuchtete Insel auf schattigem Beton, ein Tresen, die Barbetriebsinsel. Der Barmann, ein hübscher Keeper, schüttelt seine Drinks. Er hat etwas Südländisches an sich. Vielleicht existiert er nur, solange die Lampen dieses warme Licht erzeugen. Jenseits der Insel, Rohbau, Dunkelheit, Stahl, Beton. Eine Handvoll Menschen sitzt in Sesseln. Sie sind sich bewußt, die einzigen Gäste zu sein, und sehen aus, als könnten sie sich nicht recht entspannen, denn auf sie kommt es ja an. Woher mögen sie angespült sein?

Zwei nette junge Frauen kommen aus München und aus Wien. Es spielt ein sehr bekannter Musiker heute Abend, erzählen sie. Franz Pomassel. In Wien ist die Halle voll, wenn er kommt. Hier nicht. Wahrscheinlich ein Kommunikationsproblem. Der Palast der Republik gefällt ihnen, sie sind von weit her. Ein anderer kommt aus Rostock. Den Palast kennt er noch aus Kindertagen, sagt er. Von hier aus konnte man in den Westen telefonieren, von einem Fernsprechautomaten. Die Mark blieb im Speicher hängen, und sie sprachen mit dem Westen stundenlang und kostenlos. Das war schön. Die dritten, die ich frage, sind gekommen, weil sie in den Palast einmal hineinwollten. Der Palast, sagen sie, erinnert sie an eine Werft. Das Rohe und der Stahl. Man stellt sich kreischende Kreissägen dazu vor und Funkenschlag. Sie kennen den Palast von früher. Jetzt ist er wieder ein Rohbau, wie damals, sagen sie. Etwas, aus dem etwas entstehen könnte. Being the Future.

Ein großer Mann steht an der Bar, als hätte er sich an die sanft erleuchtete Insel gerettet. Er sieht aus wie einer, der sein Handy ausgeschaltet hat. Philipp Oswalt gehört zu den Veranstaltern. Er sucht nach einem Wort, das den Abend auf den Punkt bringt. „Das verfehlte Ereignis", sagt er und nickt. Neben ihm steht eine Frau, die nach einem anstrengenden Tag aussieht. Amelie Deufelhard, sie gehört auch zu den Veranstaltern. Die Öffentlichkeitsarbeit für den Abend sei gescheitert, sagt sie. Being the Future war das Motto, die siebziger Jahre, ihre Utopien. Die Zeit, als aus dem Rohbau ein Palast der Republik wurde. „Was an diesem Ort passiert, kann eine Sprengkraft entfalten", sagt sie und streicht ihre Haare zurück. „Warum macht man dann nicht mehr draus?" frage ich sie. Dieser Bau steht doch im Raum wie eine Frage. Welche Frage? Nach der alten Republik, nach der neuen Republik, nach Teilhabe, nach der Mitte. Eine Menge Fragen. Das entwickle sich noch, sagt sie.

Die Musiker fangen an, zu spielen und ihre Computer in Gang zu setzen. Ein Cello, der Rest ist synthetisch. Es wirkt sakral, alle lauschen. Die, die es persönlich wußten, und die Hereingespülten auch. Es ist ein Kreischen von Kreissägen und Funkenschlag. Als wollten sie den Rohbau jetzt zersägen. Die Stahlträger zerlegen. Vielleicht wird dann etwas Neues entstehen. Wir hören zu und stehen herum. Auf dem schattigen Beton, von weit weg leuchtet die Bar. Wir warten ab, wie es weitergeht.

Tina Veihelmann,

15. September, scheinschlag

 
 
 
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