Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Maueropfer

Auf den ersten Blick wirkt es doch recht befremdlich: Am 4. Oktober wird im Beisein von Bezirksbürgermeister Joachim Zeller und den Vertretern des Vereins Berliner Mauer am Haus Strelitzer Straße 55 in Mitte eine Gedenktafel enthüllt: für den Unteroffizier der DDR-Grenztruppen Egon Schultz.

Vor 40 Jahren, am 5. Oktober 1964, kam der 21jährige Schultz im Hinterhof des Hauses, in dem ein Fluchttunnel in den Westteil der Stadt gegraben worden war, bei einem Schußwechsel mit Fluchthelfern ums Leben. In den beiden Tagen zuvor waren 57 Menschen durch den 140 Meter langen Tunnel (später Tunnel 57 genannt) nach Westberlin geschleust worden.

Im Nachhinein erklärte die DDR-Führung, die Fluchthelfer hätten Schultz erschossen, und erhob den Grenzer in den Stand eines sozialistischen Helden ­ die Strelitzer Straße wurde in Egon-Schultz- Straße umbenannt, verschiedene Schulen, Kasernen und andere Einrichtungen erhielten seinen Namen, ein Kinderbuch über ihn wurde verfaßt.

Auch im Westen erregten die größte und spektakulärste Flucht aus der DDR und der Tod von Schultz Aufsehen. Der damalige Chefredakteur des Stern, Henri Nannen, hatte das Unternehmen mitfinanziert und sich so die Exklusivrechte für die Berichterstattung gesichert und wurde ­ nicht zuletzt, weil man an die behauptete Täterschaft der Fluchthelfer glaubte ­ der Mitverantwortung für die Spannungen zwischen Ost und West geziehen. Der Berliner Senat distanzierte sich im folgenden von solchen Aktionen. Zumal man die behutsamen diplomatischen Annäherungen im Zusammenhang mit dem zweiten Passierscheinabkommen nicht gefährden wollte und immer mehr Fluchthelfer eher aus kommerziellen denn aus humanitären Gründen als Schleuser tätig wurden.

Erst in den neunziger Jahren stellte sich heraus, daß Egon Schultz keineswegs von einem der Fluchthelfer getötet worden war. Diese hatten zwar die Schießerei begonnen, den tödlichen Schuß auf Schultz hatte jedoch versehentlich einer seiner eigenen Kollegen abgegeben. Die DDR-Führung hatte von Anfang an darum gewußt, der besseren propagandistischen Verwertbarkeit wegen aber stets an der Täterschaft „westlicher Agenten" festgehalten.

Doch Schultz ist nicht das einzige Maueropfer, dessen man in diesem Jahr gedenken wird. Im Rahmen der „Geschichtsmeile" entlang des ehemaligen Mauerverlaufs wird noch vor dem 9. November eine Informationstafel über den Tod des DDR-Grenzers Reinhold Huhn an der Ecke Jerusalemer Straße/Zimmerstraße eingeweiht. Huhn wurde 1962 tatsächlich von einem Fluchthelfer erschossen. Die DDR ehrte ihn daraufhin mit einem Denkmal und benannte eine Straße nach ihm, die Anfang der Neunziger wieder umbenannt wurde – in Schützenstraße (die makabre Doppeldeutigkeit dieser Umbenennung war den Verantworlichen anscheinend nicht bewußt). Der Täter hatte seinerzeit mithilfe des westdeutschen Geheimdienstes glaubhaft machen können, Huhn sei versehentlich von den eigenen Kollegen getötet worden, und wurde erst vor wenigen Jahren wegen „heimtückischen Mordes" zu einem Jahr, ausgesetzt auf Bewährung, verurteilt.

gs

Am Sonntag, dem 3. Oktober um 11 Uhr veranstaltet das Dokumentationszentrum Berliner Mauer, Bernauer Straße 111, Wedding, eine Podiumsdiskussion zum Tunnel 57, Anmeldung erbeten unter fon 4641030 oder info@berliner-mauer-dokumentationszentrum.de. Im Anschluß wird ebendort stündlich zwischen 14 und 17 Uhr die Dokumentation „Heldentod" von Britta Wauer gezeigt.

 
 
 
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