Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die letzte Kolonie

Demnächst gibt es eine Antikoloniale Konferenz in Berlin. Antikoloniale Bustouren kutschieren durch die Stadt, Filme werden gezeigt, die zur Kolonialkritik anregen sollen, Debatten geführt, Artikel geschrieben. Wir haben doch schon lange keine Kolonien mehr, mag sich da manch einer denken. Doch das ist nicht wahr. Von wenigen bemerkt, von den Medien kaum beachtet, gibt es noch eine vergessene Kolonie. Die ist einfach übriggeblieben. Sie liegt im Wedding. Weit draußen im Wedding, unweit des U-Bahnhofs Rehberge. Über die Häuser hinweg fliegen hier Flugzeuge im Landeflug Tegel an. Alle zehn Minuten. Sie sind riesengroß und dröhnen wie eine Katastrophe. Es sieht aus, als würden sie auf den Häuserdächern entlangfahren, so tief fliegen sie. Hier ist es. Versteckt hinter Häusern liegt unsere letzte Kolonie: die „Dauerkolonie Togo". So steht es auf einem Schild in schwarzen Lettern. Ein geharkter Weg führt durch die Kolonie. Fremde können einfach hineingehen. Gern führen die Weddinger ihre Hunde hier aus. An beiden Seiten des Weges stehen unbefestigte Hütten, manche sind sogar gemauert und weiß getüncht. Die Bewohner scheinen ein wenig Subsistenzwirtschaft zu betreiben, auf kleinen Stücken Land werden Früchte und Gemüse angebaut. Vor manchen Häuschen stehen buntbemalte Tonfiguren, vermutlich dienen sie kultischen Zwecken. Wir werden freundlich, aber zurückhaltend empfangen, die Bewohner scheinen nicht scheu zu sein, wahren aber Distanz. In der Dauerkolonie lebt es sich ruhig, erklärt ein alter Mann, der ein Werkzeug für die Gartenarbeit reinigt. Kaum Streit, kaum Konflikte, auch mit Fremden gibt es wenig Probleme. Der Bildungsgrad ist hoch. Es erscheint eine eigene Publikation, das Togo-Magazin. Das zivile Leben ist geregelt: Mittagsruhe ist zwischen 13 und 15 Uhr. „Allet jut hier", sagt er.

Es ist Abend. Allenthalben werden Lampions entzündet, man sitzt vor der Hütte, nimmt ein einfaches Abendmahl ein, schwatzt und sieht den langen Luftschiffen bei ihrer Fahrt über die Häuserdächer zu. Die Bewohner zucken gar nicht zusammen, wenn es wieder einmal infernalisch lärmt. Die Eisenvögel rauschen doch immer hier drüber. Sie fliegen nach Spanien, in die Türkei oder nach Afrika. Dabei ist Togo doch hier unten im Wedding. Aber das wissen die Leute in den Eisenvögeln nicht.

Tina Veihelmann

 
 
 
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