Ausgabe 07 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

musik für die massen

Schnittmengen

Unmöglich, ständig die Welt neu zu erfinden. Muß auch nicht sein – oft genügt es, bereits vorhandene Elemente verschiedener Bereiche zu etwas Neuem zu verbinden. An diesen Schnittstellen passieren dann meist ganz spannende Dinge.

Das Kammerflimmer Kollektief bastelt schon seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Jazz und Elektronik. Das aktuelle Album Hysteria (Quecksilber) läßt dem Zuhörer eigentlich nur die Wahl, es zu lieben oder es für nervtötend zu halten. Auf einer scheinbar unendlich weiten Fläche vermischen sich minimale Jazzelemente mit elektronischen Klick- und Knarzlauten. Der Hörer wird nicht an die Hand genommen und durch diese Weiten geführt, er muß seinen eigenen Weg finden. Wer sich allerdings voller Begeisterung durch das Album bewegt, bekommt doch noch eine Perspektive zum Genuß von Hysteria angeboten: „Du siehst hoch; du siehst ,Wolken'". Gleich zwei Versionen gibt es von diesem Titel ­ einmal ein sechsminütiges Original und dann eine 13-minütige „Version". Nicht der schlechteste Titel und schon gar nicht die schlechteste Umschreibung für das, was auf Hysteria passiert.

Brazilectro (Audiopharm) ist eine Reihe, die seit über vier Jahren die Clubtauglichkeit der Schnittmenge zwischen Latin und Elektronik untersucht. Neben durchaus originellen Adaptionen bekannter Klassiker und neuen Hüftschwung-Variationen zwischen Bossa Nova, Copa Cabana und Summer Samba im Electronikgewand ist vieles eher als Hintergrundmusik für die Lounge-Ecke als für den Dancefloor geeignet. Es gibt definitiv schlechtere Sampler zu diesem Thema ­ und trotzdem wäre es qualitativ ein Sprung, wenn das Doppelalbum als einfache Ausgabe dahergekommen wäre.

Zum Schluß noch ein echter Leckerbissen: Zwar ist das Konzept von wildem Übereinandermischen von Songs, die eigentlich nicht zusammengehören, spätestens seit dem Project von Too Many DJ's beliebt und verbreitet, aber was auf der Doppel-CD Copyright Candies (über: www.bungalow.de) von dem Berliner DJ Shir Khan zusammengehämmert wurde, ist Bastard Pop vom Feinsten: Eminem rappt über Nenas „Nur Geträumt", Kylie schmust mit Tone Loc, eng umschlungen rocken AC/DC mit Missy Elliot und Nirvana in einem unglaublichen Crossover der grenzenlosen Stilvermischung ­ alles hat sich zu einer einzigen Schnittmenge verwoben. Anstatt über den zusammenbrechenden Umsatz zu jammern und dabei ewig das Gleiche auf den Markt zu schmeißen, sollten sich die Majors an der anarchischen Kreativität von Bastard Pop ein Beispiel nehmen. Dabei müßten dann natürlich ein paar der überkommenen Grundsätze dran glauben ­ zum Beispiel in allem Neuen wie Download-Börsen im Internet nur das Böse zu sehen, statt es als Chance zu begreifen. Aber so ist das eben, wenn erstarrte Strukturen auf etwas Neues stoßen ­ es bilden sich nicht sofort die tollen Schnittmengen.

Marcus Peter

 
 
 
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