Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Erst mal die Rolltreppe hoch

Saturdaynightfever in der Gropiusstadt

Gropiusstadt, U-Bahnhof Lipschitzallee – die Samstagabenddämmerung beginnt sich zu senken. Hier ist Christiane F. drogenabhängig geworden. Ich habe, wenn ich an die Gropiusstadt denke, ein Bild aus dem Christiane F.-Buch vor Augen, auf dem ein engelhaft blondes Kind auf einem Spielplatz steht und hilfesuchend die Arme hochreckt. Im Hintergrund türmen sich Hochhäuser, kontrastreich fotografiert, die bedrohlich und düster aussehen. Westberliner Peripherie, an den Rand gedrängte Menschen.

Zum ersten Mal bin ich wirklich hier. Der Platz über dem U-Bahnhof wirkt weit und für einen Innenstädter ungewohnt hell. Verblauendes Weiß der Fassaden, kein Verkehr, ein paar Imbißbuden. Verschiedene Grüppchen Christiane F.s kreuzen das Bild. Zum Beispiel vier Mädchen, die alle denselben blauen Lidschatten verwendet zu haben scheinen. Ob sie sehr leiden? Sie heißen, wie ich gleich erfahre, Martha, Lena, Patricia und Monique und sind 15.

­ Darf ich euch ein paar Fragen stellen? ­ Ja, aber wir sind ein bißchen verrückt. ­ Warum das? ­ Weil wir ziemlich angeschickert sind. Aber das darfst du nicht schreiben, wegen unserer Eltern. ­ Gefällt es euch in der Gropiusstadt? ­ Ja. (einstimmig) ­ Weshalb? ­ Weil hier unsere Freunde sind und wir machen können, was wir wollen. ­ Empfindet ihr die Gropiusstadt als Peripherie? ­ Was ist das? ­ Weiß ich auch nicht so ganz genau. Fahrt ihr manchmal ins Zentrum? ­ Ja. Wir sind unterwegs dahin. Zentrum Gropiusstadt. ­ Was macht ihr im Gropiuszentrum? ­ Rumlaufen, so. Jungs gucken. Burger King. ­ Und da gibt es hübsche Jungs, ja? ­ Ja, total süße. ­ Wie komme ich dahin? ­ Da lang.

Die Gropiuspassagen finde ich sofort. Ein Stück durch die Grünanlagen, von denen Gropius erwartet hatte, sie würden einst ein „Tätigkeitsfeld für die ganze Familie" sein. Tätig sind hier einige Liebespärchen auf Bänken. Das Gras ist gemäht, der Abend ist lau, bald erreiche ich das „Zentrum", das ganz so aussieht wie eine übliche Einkaufspassage. Sie ist über den U-Bahnhof Joachimsthaler Allee gebaut. Vor Burger King stehen vier Jungs, die blütenweiß gekleidet sind und dicke Silberketten tragen, mit stolzen arabischen Gesichtern in selbstbewußter Körperhaltung. Sie zerknüddeln Burger-Verpackungen und sind im Aufbruch begriffen.

Darf ich euch ein paar Fragen stellen? ­ Ja, aber mußt du dich beeilen. ­ Bist du aus Gropiusstadt? ­ Ja. ­ Gefällt es dir hier? ­ Ja, klar. ­ Wie heißt du? ­ Jussuf, und du? ­ Tina. ­ Was machst du hier, Tina? ­ Hm. Fragen stellen. ­ Weißt du, müssen wir später weiterquatschen. Hast du Telefon? ­ Wohin fahrt ihr jetzt? ­ Lipschitzallee. ­ Was macht ihr da? ­ Rumlaufen, so. ­ Rumlaufen und was? ­ Na so rumlaufen. Ich muß los, leider.

Die Jussufs verschwinden im U-Bahnschacht. Schade um die verlorene Beute für Martha, Lena, Monique und Patricia, die eben in die Passagen einmarschieren. Ich überlege, ob ich ihnen sagen soll, daß vier total süße Jungs gerade zur Lipschitzallee gefahren sind.

In den Gropiuspassagen kann man am Samstagabend auf und ab gehen, vorbei an geschlossenen Läden. Es gibt ein Kino, das Troja und Kill Bill zeigt und eine Disco 07. Ich gehe auf und ab und begegne den immer gleichen Grüppchen von Jussufs, Moniques, Marthas und Patricias, traue mich aber nicht, sie anzusprechen. Was soll ich fragen? In Gropiusstadt gibt es erhebliche bauliche Mängel, habe ich gelesen. Zum Beispiel Fertigkeitsmängel durch Ziegelsplitteinkornbeton und herabfallende keramische Wandverkleidungen. Ich könnte fragen, ob in ihren Badezimmern die Kacheln abfallen. Ich könnte wieder meine Peripheriefrage stellen. Oder fragen, ob sie drogensüchtig sind und ob sie Christiane F. kennen. Schließlich passe ich ein zwei Mädchen und einen Jungen an der Rolltreppe ab.

– Darf ich euch ein paar Fragen stellen? – Ja. – Kommt ihr aus Gropiusstadt? – Wir kommen aus Lichtenrade. – Das ist ja ganz weit weg! – Weit weg? Wieso? – Was treibt euch hierher? – Wir suchen mit aller Gewalt eine Beschäftigung. – Und was habt ihr bisher gefunden? – Wir haben noch nichts gefunden. Wahrscheinlich wieder Magen vollgestopft und das war's dann. Ein deprimierender Abend geht zu Ende. – Das hört sich deprimierend an. Wenn euch hier so langweilig ist, viele sagen ja, die Innenstadt wäre lebendiger. – In Mitte spielen sich sicherlich viele Sachen ab, aber ob sie interessanter sind, wage ich sehr zu bezweifeln. – Und was macht ihr jetzt? – Wir fahren erst mal die Rolltreppe hoch.

Die Kinder aus Lichtenrade fahren entschlossen und mit traurigen Mienen die Rolltreppe hoch. Ein Stück weiter entdecke ich ein Mädchen, das noch viel trauriger aussieht. Sie ist schwarz gekleidet, hat ein schneeweiß geschminktes Gesicht und geht in Richtung U-Bahn.

­ Darf ich dir ein paar Fragen stellen? ­ Ja, was willst du wissen? ­ Ich will wissen, was Jugendliche in Gropiusstadt am Samstagabend so machen. ­ Dann geht es nicht. Ich werde morgen 26. ­ Schade, ich habe mich gefreut. Mal jemand, der so anders aussieht. ­ Oh, das ist ein Kompliment. Oder? War das ein Kompliment? ­ Warum nicht. Sag mal, weißt du, wo hier mehr los ist? ­ Hier ist doch eine Menge los. In Gropiusstadt sind hier samstagabends immer ganz viele. Die beleidigen mich immer. ­ Darf ich dich fragen, wohin du unterwegs bist? ­ Ich fahre jetzt nach Biesdorf Süd.

Ein letztes Grüppchen, das ich anspreche, gibt an, aus Lichterfelde zu kommen. Die vier sind sauber gekleidet und haben Gel in den Haaren. Auch sie meiden offenbar die Innenstadt. ­ Warum vertreibt ihr euch den Samstagabend ausgerechnet hier? ­ Zufallsprinzip. Wir fahren irgendwohin und gucken, was da los ist. ­ War von euch schon mal jemand zum Beispiel in Kreuzberg? ­ War ich vor kurzem, als mein Opa gestorben ist. Da wollte ich sehen, was draus geworden ist. ­ Und hat es dir gefallen? ­ Nein, überhaupt nicht. Da sind ja Straßencafés über Straßencafés. Sehr unsympathisch. Da sind wir lieber hier.

Ein letztes Mal erkläre ich, daß ich bei einer Zeitung arbeite, die nur die Berliner Innenstadt erreicht und daß ich in Kreuzberg wohne. Ein letztes Mal mit der Rolltreppe gefahren, verlasse ich Gropiusstadt, den verkannten Magneten des Saturdaynightfever. Die U-Bahnlinie 7 bringt mich zurück in das geschmähte urbane Berlin. Adieu, Christiane F. Adieu, Monique, hab einen schönen Abend, Jussuf!

Tina Veihelmann

Foto: Steffen Schuhmann

 
 
 
Ausgabe 05 - 2004 © scheinschlag 2004